Die Herrscher und die Beherrschten: Lenin, Stalin, Gorki

Ich habe Texte von Gorki (Alexei Maximowitsch Peschkow; 1868-1936) als Jugendlicher gerne gelesen, das heißt Kurzgeschichten von ihm (Maxim Gorki: Meister-Erzählungen, Droemersche Verlagsanstalt, o.J.). In dem Band von Witali Schentalinski (Das auferstandene Wort. Verfolgte russische Schriftsteller in ihren letzten Briefen, Gedichten und Aufzeichnungen, Lübbe Verlag 1996) wird das Verhältnis von Gorki zu den Machthabern im Kreml anhand von Funden in der sowjetischen Geheimdienstzentrale dargestellt. Freilich war Gorki kein Verfolgter. Aber interessant, was über ihn in den Archiven sowjetischer Geheimdienste gefunden wurde.

Gorki war mit Lenin (1870-1924) befreundet – die Freundschaft war aufgrund der unterschiedlichen Ansichten über die Revolution, die Religion, das Volk nicht frei von Spannungen; die Freundschaft kühlte jedoch immer mehr ab – aber wie auch andere Schriftsteller seiner Zeit versuchte Gorki der Revolution gute Seiten abzugewinnen und Lenin großzuschreiben, konnte es aber nicht so ganz.

In diese Zeit passt ein Wort Gorkis zu Lenin: „Ich weiß, dass ich ein schlechter Marxist bin. Aber schließlich sind wir Künstler alle ein bißchen unzurechnungsfähig.“ (451)

Intellektuelle, die nicht mitmachen, sind Dreck

Gorki war mit dem Fortgang der Revolution nicht einverstanden. Er half Schriftstellern und versuchte kulturelle Tradition so gut er konnte zu bewahren – versuchte aber gleichzeitig, sich anzupassen. Er war hin und her gerissen von Anpassung und Widerstand. Lenin versuchte seinerseits den berühmten Schriftsteller-Freund streng an seine Revolution anzupassen. Streng weist er ihn darauf hin, dass die Intelligenzler, die Gorki zeitweise am Herzen lagen, „Lakaien des Kapitals (sind), die sich einbilden, das Hirn der Nation zu sein. In Wirklichkeit ist das kein Hirn, sondern Dreck.“ Damit versuchte er Gorki von dessen Einsatz für die Schriftsteller abzuhalten. Mit allen Mitteln der Propaganda wurde gearbeitet. Schentalinski erinnert sich in diesem Zusammenhang an einen Satz Puschkins: „Erhebender Betrug ist uns teurer als niedrig-finstere Wahrheit.“ (462) Menschen wollten diesem Propaganda-Betrug glauben.

Nicht das Individuum ist wichtig – das Ziel ist es

Zahlreiche Schriftsteller wurden aus Russland ausgewiesen, unter ihnen auch Gorki (bzw. er wurde hinauskomplimentiert; 1921) – aber der den Sozialisten geneigte Schriftsteller Blok, der sehr krank war, den wollte man nicht gehen lassen, sodass er dann wohl an Hunger/Skorbut starb, kurz darauf wurde auch Gumiljow (der Ehemann von Achmatowa), „der ohne jeden Grund bezichtigt worden war, an einer weißgardistischen Verschwörung mitgearbeitet zu haben“ erschossen.

Der große Unterschied zwischen Gorki und Lenin: Für Gorki hatte jeder Mensch (zunächst) Wert – für Lenin war der Mensch nur Material zur Durchsetzung seiner Ideologie.

Denunzianten fördern die RevolutionTrennung von Freunden

Und so forderte Lenin das Denunziantentum: „Wenn uns etwas Schaden zufügt, dann sei das nicht Denunziantentum, sondern der Mangel an Denunziationen… Man könne die beste Freundschaft pflegen, aber wenn sich politische Meinungsverschiedenheiten einstellten, seien wir nicht nur gezwungen, die Freundschaft zu beenden, sondern weiter zu gehen und Anzeige zu erstatten.“ (466)

Verantwortungsloses Experiment eines Theoretikers – Leiden des Volkes stärkt das Volk

Nachdem Gorki ausgewiesen worden und Lenin (1924) gestorben war, schreibt er über Lenin, dass dieser ein amoralischer Mensch gewesen sei, „der das Unglück des Volkes mit hochherrschaftlicher Gleichgültigkeit betrachtet, eines Theoretikers und Träumers, der vom wirklichen Leben nichts versteht“, der „dieses verantwortungslose Experiment“ durchgeführt hat (469). Das Leiden der Bevölkerung sieht Gorki jedoch als eines an, das das Volk stärke und reinige. Nach Lenin kam der Berufsrevolutionär Stalin (1878-1953) an die Macht.

Missbrauch des naiven Schriftstellers

Gorki wankte hin und her – entsprechend misstrauten ihn sowohl die Exilrussen (denen er herablassend begegnete) als auch die Bolschewisten. Die Letztgenannten kontrollierten auch die Post, die von Gorki an Menschen des Landes geschrieben wurde bzw. von ihnen an Gorki gesandt worden war. Manche schilderten die brutale Situation in der Sowjetunion und verstanden nicht, warum Gorki mit seinem nationalen und internationalen Gewicht nichts dagegen sagt, im Gegenteil, die Briefschreiber auch noch öffentlich erniedrigt (485ff.). Die Menschen, denen Gorki geschrieben hat und die Gorki geschrieben haben, gerieten nun in den Fokus des Geheimdienstes. Dadurch war Gorki – ohne dass er es in seiner Naivität wusste – auch ein Lockvogel des Geheimdienstes. Zum anderen haben Bolschewisten Gorki herablassend behandelt, weil er ja nicht voll und ganz auf der Seite der Wahrheit sei.

Ein alter Wissenschaftler für die Freiheit der Wissenschaft

In dem Abschnitt wird auch ein Wissenschaftler zitiert, der Gorki die Situation beschrieben hat. „Wir, die Vertreter der Wissenschaft, der geistigen Arbeit des gesprochenen und gedruckten Wortes, sind aller Rechte auf ein freies wissenschaftliches und intellektuellen Schaffens beraubt und durch die Drohungen… zum Schweigen gezwungen.“

Eine kleine Clique bestimmt gegen den Willen der Menschen

Ein anderer schreibt: „An der Spitze der gesellschaftlichen Bewegung steht eine kleine Gruppe von Waffengefährten Lenins… Ihre Thesen, ihre Postulate und Ideen liegen unserer Gesetzgebung zugrunde. Man hat sie dem Fleisch und Blut des russischen Volkes injiziert und sie durch die revolutionäre Ordnung sämtlichen Aspekten unseres Alltagslebens aufgezwungen. Häufig gegen unseren Willen…“ Ein Bauer schreibt ihm, dass wenn einer mutig sei und sagt, dass der jeweilige Kommunist nicht recht hat, dann wird er als „feindliches Element“ eingestuft.

Vom Herrscher bestechen lassen

Gorki wurde (ohne zu wissen?) von dem Regime finanziell unterstützt, kehrte 1927 nach Russland zurück, bekam eine große Villa, Datschen – und er durfte immer wieder ausreisen. Und vor allem: Stalin übergab Gorki Macht und wurde zum Zentrum eines von Stalin initiierten Gorki-Kultes.

Neue Sicht auf die Realität – gegen die Realität

In der Nachfolge Lenins haben Gorki und Stalin die Idee in der „Gorki-Villa“ des „sozialistischen Realismus“ entwickelt, das heißt: Die Gegenwart muss aus der Perspektive der guten Zukunft betrachtet werden – das heißt aber auch, dass die gesamte Kunst der Vergangenheit aus der Sicht der sozialistischen Perspektive der Arbeiterklasse dargestellt werden soll. Und so wird unter anderem auch Rembrandt als Maler der Arbeiterklasse neu einzuordnen sein (507f.). Stalin nannte die anwesenden Schriftsteller „Ingenieure der Menschenseelen“. Viele von ihnen landeten dann freilich später im Gefängnis oder wurden ermordet.

Strafmaßnahmen gegen Abweichler

Abweichler wurden als Kriminelle angesehen. Von daher scheint es laut bisherigen Archiv-Unterlagen Gorki nicht weiter interessiert haben, dass Schriftstellerkollegen in den Gulags inhaftiert waren bzw. erschossen wurden, wenn er es denn überhaupt wahrgenommen hat. Die Umerziehungsarbeit wurde von ihm begrüßt. „Wenn der Feind sich nicht ergibt, wird er vernichtet.“ Ebenso wandte er sich gegen die von ihm so genannten „Berufshumanisten“ (518f.). Selbst dann, wenn gegen seine Freunde agitiert wurde, unterstützte er das.

Als man ihn nicht brauchte, ließ man ihn fallen

Gorki wurde von Stalin fallen gelassen. Warum? – darüber gibt es Vermutungen. Gorki seinerseits erkennt, dass er nicht mehr frei ist. Er starb 1936 wohl eines natürlichen Todes. Seine Asche wurde geehrt – seine Mitarbeiter bzw. Menschen seines Umfeldes wurden weitgehend hingerichtet.

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