Gott in Gedichten (21): Rilke

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Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Mutter und Vater waren vom Leben enttäuscht. Die Mutter erzog ihn in Prag vermutlich wie ein Mädchen, weil die ältere Schwester Rilkes kurz nach der Geburt gestorben war. Sein Verhältnis zur Mutter beruhte bis ins Alter auf massiver Abneigung. Er kam auf eine Schule, in der militärisch agiert wurde, ein Kontrast zum bisherigen Leben, das er aber einige Jahre durchhalten musste. Er begann ein Studium und lernte Lou Andreas-Salomé (1861-1937) – die auch engen Kontakt zu Nietzsche hatte – kennen. Sie hat sein Leben und Denken ungemein inspirierte. Er reiste viel und lernte zahlreiche Künstler und Schriftsteller kennen. Hervorzuheben sind seine Reisen mit Lou Andreas-Salomé nach Russland. Denn die Stundenbuch-Gedichte sind von den Erfahrungen in Russland sehr stark abhängig. An Lieb- und Freundschaften war es kein armes Leben, auch wenn er sich einsam fühlte und depressiv war. Am Ende seines Lebens wurde er krank, erkrankte an Leukämie, kam auf politische Abwege, indem er den italienischen Faschismus begrüßte.

Die Darlegung unten wurde weitgehend mit Hilfe der Gedichte aus dem Stundenbuch ([S] 1899-1903), dem „Buch der Bilder“ ([B] 1902/1906), „Duineser Elegien“ ([D] beendet 1922) und einzelnen anderen aus Rilke: Die Gedichte, Insel Verlag 1995, 7. Auflage, erarbeitet. Zur Rilke-Interpretation sei vor allem auf die hingewiesen, die Lou Andreas-Salomé in ihrer Autobiographie gibt. Diese ist kaum zu toppen. Sie stellt dar, wie der Künstler Rilke damit kämpft, das Unsagbare – Gott – mit seinem Gefühl verbunden, sprechen zu lassen – und dabei psychisch bis an die Grenzen geht.

Für Rilke spielte Jesus Christus keine besondere Rolle. In seinen Christusvisionen (1886/1887; 1898) sieht er Jesus, der sich seiner Tochter Anna nähert – und dann wieder verschwindet, Jesus beklagt sich bei dem lyrischen Ich, dass die Jünger seinen Leib gestohlen hätten und seitdem das Drama falschen Glaubens seinen Lauf genommen habe. Und sehr dramatisch macht Jesus Gott Vorhaltungen, dass er wohl gar nicht existiere und Menschen vergeblich beten und flehen. „Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei / und er sieht Christum einsam knien und weinen.“ Jesus ist müde und matt, traurig, fragend, irrend. Der Mensch, der dem erdachten Jesus folgt, ist ebenso leer (vgl. „Der Ölbaum-Garten“, „Pietà“ u.a.). Lebhaft versetzt er sich in Jesus hinein, beschreibt die Auferweckung des Lazarus, das Emmaus-Ereignis, die Höllenfahrt Jesu. In seinem Gedicht „Imaginärer Lebenslauf“ beschreibt er nur kurz das Leben und dann: „Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.“ Und so erschafft sich der Mensch Rilke einen Gott, weil er den Gott, den der christliche Glaube verkündet, nicht annehmen will. In „Für Lotte Bielitz“ muss man nicht zu Gott hinauf, sondern zu Gott hinab – und man muss einfach seine Hand hinhalten – Gott das Wasser „wird verschwenden / und deiner größten Fassung über sein.“ „Ein Gott“ oder auch „Götter“ kommen immer wieder einmal in seinen Gedichten vor, zum Beispiel: „Einem Gott nur ist die Macht gegeben, / das noch Ungewollte zu entwirrn.“ („Sind wirs, Lulu, sind wirs?“) Nonnen haben es ihm angetan, die einsam nach Jesus und Gott fragen – letztlich halten sie sich im Gebet an ihren eigenen Händen fest. Weihnachten wurde ihm fremd.

Die religiöse Sprache ist immens, es ist vom Segen die Rede, vom Beten, vom Wunder tun, vom Heilig-Sein, von Sein und Geist, vom Erhabenen, von Engeln, die Nacht wird versehen mit göttlichen Attributen usw.  – aber es geht vielfach nicht um Glauben, sondern um das Beschreiben einer Stimmung: sei es Abend, sei es Liebe.

Manchmal wird auch des Menschen Verhältnis zu Gott dargestellt: „Seit den wunderbaren Schöpfungstagen / schläft der Gott: wir sind sein Schlaf“, die ihm in seiner Faust Schmerzen bereiten. Im Kriegsjahr 1914 schreibt er im ersten der fünf Gesänge: „Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft / nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott“.

Rilke gehört, so sehe ich ihn, zu den Großen, die selber Wein und Brot sein wollen, wie Christian Morgenstern schrieb, selbst Gottes-Offenbarer, wie Nietzsche, von daher stört ihn Jesus Christus. Allerdings möchte er nicht, wie Nietzsche mit Jesus Christus verschmelzen, obgleich die Selbstdemut als vorübergehender Fremder und Armer und vielfach als Leidender in diese Richtung tendieren. Kunst übernimmt bei Rilke wie bei Nietzsche die Rolle der Religion. Der Künstler ist der Charismatiker und gar Priester, ja, der Offenbarer. Kunst weiß es besser – und der dritte im Bunde ist Stefan George, der als pseudoreligiöser Meister Jünger um sich schart. Ich weiß auch nicht, ob man bei diesen charismatisch-religiösen Gestalten von einem lyrischen Ich sprechen kann – da sie selbst in diesen von ihnen geschrieben Worten gesehen werden wollen.

Rilke wartet auf eine Gotteserfahrung. Diese Gotteserfahrung erwartet er wie ein Mystiker, besser ringt darum – nicht wie ein Rationalist, ein Logiker: Gott soll ihn ganz erfassen, es soll nicht Glaube sein, sondern Gottesspürung, Ergriffensein von Gott in seinem tiefsten Wesen – und das versucht er in Worte zu fassen. In der Sommersonne reift das Obst – im Reifen des Menschen reift Gott. So kann man ein wenig verquer sein Gedicht verstehen: „Ich aber will dich begreifen / wie die Erde dich begreift, mit meinem Reifen / reift / dein Reich.“ („Alle, welche dich suchen, versuchen dich“; in: [S] Pilgerschaft) „Ich will“ – und damit zeigt sich, dass Rilke mit seiner ganzen Offenheit, die sein Gottesbild mit sich bringt, der Offenheit Gottes Grenzen setzt. Damit macht er das, was er in „Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen“ macht: „Denn dich verhüllen unsre frommen Hände, / sooft dich unsre Herzen offen sehn.“ ([S] Vom mönchischen Leben) Das allerdings lehnt er ab und umkreist Gott, den uralten Turm ([S] Vom mönchischen Leben: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“), er will Sucher bleiben, er will davon träumen, Gott zu vollenden – und damit sich zu vollenden („Die Dichter haben dich verstreut“; [S] Vom mönchischen Leben) – gleichzeitig sagt er, wo er Gott findet, in allem, dem er nahesteht. Er zeigt sich als der von Gott inspirierte – weil er Gott durch seine Worte in die Leserinnen und Leser inspiriert. Wer ist hier: Gott?

Er sagt nicht, wie in der Negativen Theologie, was Gott nicht ist, weil man nicht sagen kann, was er ist, sondern er spricht wie die Glaubenden des Alten Testaments, indem er sich einander widersprechende Bilder nebeneinander stellt: „Du bist der Wald der Widersprüche. / Ich darf dich wiegen wie ein Kind, / Und doch vollziehn sich deine Flüche, / die über Völkern furchtbar sind.“ („Du bist der Tiefste, welcher ragte“; [S] „Vom mönchischen Leben“). Aber dieser Gott ist ein Du. Gott verschwindet für Rilke nicht im Sein des Seins schlechthin. Da findet er ihn – und das macht seine Ambivalenz aus – aber als Du. Als Du, das Rilke benötigt – aber Gott benötigt auch Rilke: „Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? … mit mir verlierst du deinen Sinn.“ Zumindest ist ihm um Gott und sich selbst bange [S]  (wie wir auch in Psalmen finden können; der Beter fragt Gott: Wer wird dich loben, wenn ich gestorben bin?). Rilke berauscht sich / wird berauscht durch seinen Gesang: „Ich komme aus meinen Schwingen heim, / mit denen ich mich verlor. / Ich war Gesang, und Gott, der Reim, / rauscht noch in meinem Ohr.“ – Eine mystische Erfahrung, die dann in das Gebet mündet und in Erinnerung dessen, was er sah: „Weit war ich, wo die Engel sind, / hoch, wo das Licht in Nichts zerrinnt – / Gott aber dunkelt tief.

Außerhalb der Stundenbücher wird Gott nur noch selten angesprochen bzw. intendiert. Berühmt sind die Gedichte „Herbsttag“, das mit dem Auftakt beginnt: „HERR: es ist Zeit.“ Der Herr wird damit beauftragt, den Herbst herbeizuführen. In dem Gedicht „Herbst“ wird Gott nicht direkt genannt: „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält.“ (Beide in „Das Buch der Bilder“) Es ist der Gott, den Rilke im oben genannten Sinne im Sein der Welt herausspürt.

Er, der Jesus Christus ablehnte und auch den Glauben, dass der Mensch auch nach dem Sterben bei Gott aufgehoben ist, ebenso den klassischen christlichen Glauben angegriffen hat, klagt in den „Duineser Elegien“ über das Sterben. Voller Angst vor den mächtigen Engeln, die schön, aber tödlich sind: „Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang“. Vor dem Engel (der laut Lou Andreas-Salomé Gott sein soll), der im Gegensatz zu den Menschen alles weiß, schildert er das Dennoch-Tun des einmaligen Menschen, das liebende, heldenhafte Tun angesichts der Leere und des Todes, damit dieser staune. Eine Verwandlung des äußeren in das Innere hinein hat stattzufinden. Das wird dann durch den Tod ermöglicht. Nur das unbewusste lebende Tier hat Gott und Ewigkeit vor sich. Nicht der bewusst lebende Mensch: Der Tod verhindert das reine Sehen des Menschen – aber wenn der Mensch tot ist, kann der Tod das reine Sehen nicht mehr verhindern. Aber letztlich: „Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids“ doch die Toten weisen auf den Frühling: „Und wir, die an steigendes Glück / denken, empfänden die Rührung, / die uns beinah bestürzt, wenn ein Glückliches fällt.

Lou Andreas-Salomé erkennt, dass Rilke im Zwiespalt zwischen „Gottandacht“ und „Gottaussage“ stand und das Objekt übergroß war, Rilke selbst es als anmaßend ansah. Ich weiß nicht, ob das der Grund seines Zwiespaltes war. Kann es sein, dass er zerrissen wurde zwischen dem Gott, wie er aus christlicher Perspektive ist – und Rilke ihn aber nicht haben wollte, in gewisser Weise Feuerbach umsetzend, sich einen Gott machte? Dann  hat er das „Stundenbuch“ veröffentlicht – und Gott entschwand ihm weitgehend – zumindest aus den Gedichten -, er konnte nichts mehr über ihn sagen und verneint ihn auch. Hat er gemerkt, dass er selbst nicht wie Jesus „Brot und Wein“ sein konnte – Gottesoffenbarer, ohne zerstört zu werden – und darum Mensch wurde? Vielleicht hat er gespürt, dass dieser Versuch ihn zerstört hätte. Aber damit hat er die Basis für eine gewisse Rilke-Hagiographie gelegt. Das musste genügen. Freilich: Man kann Gedichte Rilkes in der Relecture christlich verwenden, weil er aus dem Gesamtbild des christlichen Mosaiks ein paar kleine Steinchen verwendet hat. Man muss nur wissen, dass man ihm selbst dann nicht unbedingt gerecht wird.

Über Rilke, mit dem ich mich seit den 90ern immer wieder beschäftige, könnte ich noch stundenlang schreiben. Aber ich denke, in diesem Rahmen habe ich Wesentliches in aller Kürze  gesagt.

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