Organspende – Entscheidungspflicht

Bevor man so weitreichende Eingriffe bedenkt, sollte man erst einmal untersuchen, warum immer weniger Menschen ihre Organe spenden wollen. Und die angesprochenen strukturellen Probleme sollten beseitigt werden. Unsere Grundlagen auf Unversehrtheit des Individuums werden auf den Kopf gestellt, wenn man eine Ablehnung statt eine Zustimmung äußern muss.

Zudem:

  1. Wie denkt man sich das? Bekommt jeder Erwachsene Post von der Krankenkasse: Du musst ablehnen, wenn du nicht freiwillig Spenden willst!?
  2. Bekommt jeder, der Volljährig ist zu seinem 18. Geburtstag den Brief zugesandt: Lehne ab, sonst stimmst du zu?
  3. Oder rechnet man damit, dass nicht alle das mitbekommen und man dann – eben den Schlafmützen – sozusagen aus Strafe die Organe entnehmen kann? Wie manche üblen Firmen einem was andrehen zur Ansicht, man das aber dann ablehnen muss – vergisst – und zack, sitzt man in der Falle.
  4. Wie ist es mit Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind? Wie ist es mit Menschen (auch wenn es wenig sind: 7/8 Millionen), die weder lesen noch schreiben können? Wie ist es mit Menschen, die nicht in der Lage sind, diese Fragestellung wahrzunehmen, Entscheidungen zu treffen? Spekuliert man auf diese Menschen?
  5. Es ist unannehmbar, Menschen zu zwingen, sich mit Themen auseinanderzusetzen, die so elementar sind – die sich nicht damit auseinandersetzen wollen.
  6. Der Ruf nach dem Staat, der das Individuum reglementieren soll, ist eher eine Links-Idee. Haben wir also auch hier wieder ein Abrutschen der CDU?
  7. Ist Mitleid eine Begründung für so einen massiven Eingriff in die Grundrechte? Es ist schlimm, wenn Menschen auf Organe warten, wenn sie massiv an Lebensqualität einbüßen, weil sie keine bekommen. Aber das ist kein Argument für eine Änderung der gegenwärtigen Praxis. Das ist nur ein Argument dafür, die Strukturen, die eine effiziente Organentnahme verhindern, zu verändern.
  8. Der Mensch gehört sich selbst – nicht einem anderen – auch nicht dem Staat. Diese Erkenntnis ist eine Errungenschaft. Sollte man sie hier aufs Spiel setzen?
  9. Moralischer Druck wird aufgebaut, man darf nicht mehr einfach nur ignorieren, wenn von einem Organe verlangt werden, man muss selbst sagen: Da mach ich nicht mit. Man hat also Druck. Und so geht es nicht mehr um eine Spende, sondern um eine Abgabe. Wann kommt die Entscheidungs-Pflicht zum Blut abgeben?
  10. Wenn das System, sagen wir, jetzt schon lückenhaft ist, wer sagt mir, dass der Ausweis und die Ablehnung immer so schnell gefunden wird?
  11. Eine Zustimmung zur Organspende, wie sie angeblich laut Umfragen in der Bevölkerung vorhanden ist, muss noch lange nicht bedeuten, dass auch jemand dafür ist, selbst schwarz auf weiß zu belegen, dass er seine Organe spenden will. Der Mensch ist an dieser Stelle auch psychisch eigen. Umfrageergebnissen darf man nicht kritiklos trauen – sie zumindest nicht 1:1 auf die Realität übertragen.
  12. Die Frage nach Organspende ist keine natürliche Frage, sondern Folge wissenschaftlich-medizinischen Fortschritts. Von daher ethisches Neuland für den Menschen. Entsprechend sollte es nicht mit dem Brecheisen durchgesetzt werden.
  13. An dieser Stelle stellt sich mir die Frage: Ist der Rückgang nur strukturell bedingt oder haben auch Ärzte selbst psychische Probleme damit?
  14. Eine Entscheidungspflicht gegen die Spende ist freilich auch eine Frage der Kosten. Darf die in der Diskussion unter den Tisch fallen? Kranke Menschen zu finanzieren dürfte auf Dauer teurer sein als sie mit einem „gespendeten“ Organ zu versorgen. Wenn die Kosten in dieser Hinsicht auch eine Rolle spielen sollten – auch im Hintergrund! (das heißt, man möchte das der Bevölkerung lieber nicht verklickern) – dann ist das auch eine Frage des Utilitarismus. Es wäre ein Argument für die Entscheidungspflicht, da Kosten im Gesundheitsbereich sehr wesentlich sind und immer wichtiger werden. Auch an dieser Stelle sollte man ehrlich argumentieren.
  15. Manche verbinden Würde des Toten mit körperlicher Unversehrtheit. Manche Würde mit Organspende. Beide werden entwürdigt durch eine Entscheidungspflicht. Denn „Spende“ ist das nicht mehr.
  16. Die Würde des Menschen ist unantastbar – das heißt, er darf auch nach seinem Sterben nicht entwürdigt werden. Es sei denn, man nimmt ihm die Würde – wie in vielen Ländern auch die der Ungeborenen – und erklärt keck: Nur autonome, selbstbestimmte, rational denkende Menschen hätten Würde. Für mich bedeutet Zivilisation auch würdigen Umgang mit dem Toten, auch wenn der Leib vergehen wird. Und bevor er vermodert, wie manche despektierlich sagen, sollte man ihn doch „spenden“, damit wenigstens etwas Gutes tun. Was Gutes tun bedeutet, wem man was Gutes tun will, das sollte man noch immer dem Individuum überlassen. Unwürdiger Umgang mit dem Toten schadet dem Toten nicht – zeigt aber, dass diejenigen, die unwürdig mit ihm umgehen, zivilisatorisch einen massiven Rückschritt machen.
  17. Dass sehr viele Länder die Entscheidungspflicht haben und die Welt noch nicht untergegangen ist, sagt nichts darüber aus, dass auch unser Land diese übernehmen sollte. Eigenständiges Denken und argumentative Darlegung dessen, was man für richtig hält, sollte immer noch möglich sein – auch dann, wenn alle gegen meine Sicht sind.
  18. Nun kann man sagen: Diese Ausführungen sprechen nur über die potentiellen „Spender“ bzw. „Entscheider“ – nicht über die Menschen, die dringendst ein Organ benötigen. Dem ist so. Wenn man diejenigen ins Zentrum rückt, die ein Organ benötigen, dann wäre das Individuum nicht mehr frei über sich zu entscheiden, er beugt sich emotionalem Druck. Das ist wie der Fall, in der ein Familienmitglied einem anderen ein Organ spenden könnte – ist er/sie frei? Damit verbunden sind freilich noch viele weitere Fragen. Es geht hier nur um den emotionalen Druck, der Freiheit nimmt.
  19. Organspende ist im Augenblick ein Akt der Nächstenliebe. Er kann durch den Staat zu einer Art entscheidungspflichtiger Solidarität werden. Aber er sollte kein Akt der Hingabe werden – das heißt: Man gibt sein Leben auf. Von daher sollte man auch mit Blick auf die Frage des Hirntodes, dass er als Maßstab genommen wird, ehrlich mit allen Beteiligten umgehen.
  20. Ich bin nicht gegen Organspende – so sie Spende bleibt und nicht mit einer Entscheidungspflicht verbunden wird. Und hier sollte man intensiv ansetzen: Es herrschen eine ganze Menge Vorurteile im Land gegen die Organspende. Von korrupten Ärzten bis hin zum Staat, der sich bereichern will. Man muss argumentativ offensiv und ehrlich (!) vorgehen, auch in Hinblick auf Hirntod. Sterben und Tod sind Themen, die sensibel angegangen werden müssen. Menschen denken schon nicht gerne darüber nach – dann auch nicht im Zusammenhang von Organspende. Hier haben Kirchen eine Aufgabe – denn sie bieten Hoffnung über dieses Leben hinaus – und das gilt auch, wenn Organe fehlen.

Zu dem Thema auch der folgende Beitrag, zu dem es ebenfalls viel zu sagen gäbe: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/neue-organspenderegel-wuerde-die-ueberhaupt-helfen-15770998.html

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Am 7.11.2017 schrieb ich:

Immer kürzer wird die Zeit, in der ein Mensch für tot erklärt wird: https://mobile2.bazonline.ch/articles/59fd9893ab5c372d7f000001 Man will möglichst schnell an seine Organe. Man kann dann nur hoffen, nicht auf utilitaristische Ärzte zu treffen. Aber es kommt nicht allein auf die Ärzte an – auf das gesellschaftliche Umfeld, dem der Utilitarismus wichtiger ist als das Individuum. An dieser Stelle müssen Kirchen sich positionieren, wenn sie denn ethisch noch ein Wörtchen mitreden können und wollen. Nur eine Frage: Soll das das Vertrauen in die Organtransplantation fördern? Bald kommen vermutlich auch wir dahin, dass man gezwungen wird, nein zu sagen, statt dass man frei ist ja zu sagen, weil Menschen wirklich Angst davor haben, nicht wirklich tot zu sein, bevor ihnen alles entnommen wird. Vielleicht kann man sie beruhigen: Ihr spürt nichts mehr, weil man Euch narkotisiert hat! Aber dann benötigt man auch keine Sterbenden mehr – auch quick lebendig Lebende spüren dann nichts. Utilitarismus!

Vom 10. Juli 2015

Mir flatterte wieder ein AOK-Organspender-Ausweis ins Haus. Es ist immer schwer zu entscheiden – Ja, Nein, Ja, Nein, Ja… Es gibt wichtige Stimmen, die gegen die Organspende argumentieren – aus christlicher Sicht. Es ist eben, wie hier dargestellt wird, nicht nur die Frage: ist man tot, wenn man hirntot ist? Sondern es spielen eine Menge anderer Themen mit hinein: http://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/organspende-herz-um-herz-92692/ Unsere Gesellschaft ist auf das Hirn fixiert. Wenn das nicht mehr funktioniert – dann kann man den Körper vergessen. Aber, so zeigt auch der Artikel, dem ist nicht so. Aus christlicher Tradition sind Körper, Hirn, Seele eine Einheit. Man darf sie nicht zugunsten des Hirns aufgeben. Auch meine Sicht ist, dass wir bereit sein sollen, unser Leben bewusst zu leben, nach dem Wort: Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug leben. Sterben einüben, mit dem Tod umgehen lernen, das sollten wir einüben und nicht nur das medizinisch-technische Know-How für das Wahre halten. Das ist das Primäre. Sterben lernen, lernen, sich in die Hand Gottes fallen zu lassen. Und Menschen, denen man ein Organ in Aussicht stellt, kreisen um das Thema Organ, statt darum, dieses Sterben zu lernen (was man freilich nur in christlicher und buddhistischer Tradition kann, bzw. in der Tradition des Islam den Inschallah-Gedanken forcieren). Atheisten tun sich da schwerer. Aber dieses sich Gott im Leben und Sterben Anvertrauen – das sollte Priorität haben. Das soll aber die Bereitschaft, Organe zu spenden, nicht schmälern. Sicher: Gott liebt den Menschen auch dann weiter, wenn sein Hirn tot ist. Er liebt den Menschen aber nicht, weil er Hirn hat oder Körper hat, sondern er liebt ihn über die Existenz von Körper und Hirn hinaus. Das Wesen des Menschen – wie Gott ihn sieht – wie Gott ihn neu erschafft für sein Reich – ist etwas Neues. Paulus verwendet das Bild vom Samenkorn, das stirbt und danach nicht mehr aussieht wie es aussah, sondern zu einer Pflanze wird (1Korintherbrief 15). Dass eine Organspende sozial ist – daran zweifle ich nicht. Ich selbst täte mich leichter mit der Bereitschaft, meine Organe zu spenden, wenn ich wüsste, dass man mich – wie es in der Schweiz der Fall sein sollte – vorher betäubt. Natürlich ist man nach heutiger Vorstellung tot, wenn das Hirn tot ist. Aber ich traue in dieser Hinsicht unserer heutigen Vorstellung nicht, weil es sehr stark hirnig ist.

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