Sich öffentlich äußern–Demokratie

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Jeder, der sich öffentlich äußert, macht sich anfechtbar – vor allem, wenn man die vergangene Äußerung aus einer Perspektive der Gegenwart wahrnimmt – und sie nicht nur aus dem Kontext reißt, sondern auch unabhängig von der Situation beurteilt.

Der Predigtlehrer Bohren erinnerte sich einmal in einem seiner Bücher, dass er einmal geschrieben hatte, dass er sich beim Bäumefällen besonders entspannen könne – und er würde sich dafür entschuldigen. Damals, als er das geschrieben habe, habe man Bäume aus einer ganz anderen Perspektive gesehen.

Und so ist alles: Man verwendet Begriffe, Bilder, macht Aussagen, die man gar nicht als falsch wahrnehmen konnte, weil man eben in der jeweiligen Zeit gelebt hat. Und wenn man von Menschen, die jünger sind oder die sich gar nicht geäußert haben, angegriffen wird, dann weiß man: Mein lieber Kritiker, meine liebe Kritikerin: In ein paar Jahren wird es dir genauso ergehen. Die Jungen werden dich angreifen, weil du Worte verwendet hast, Ansichten, die damals als normal galten. Politische Gegner werden dies und das aus deiner Vergangenheit heraus pulen, wie du es tust.

Vielfach ist man einfach naiv – bevor man die Gesellschaft durchschaut. Das wurde mir so bewusst, als ich gelesen hatte, dass einem muslimisch-christlichen Pärchen in Jordanien sehr schmerzhaft deutlich gemacht wurde, dass Männer und Frauen – vor allem auch nicht, wenn sie unterschiedlichen Religionen angehören – nicht einfach nur liebendes Pärchen sein dürfen, sondern sich an strenge Regeln zu halten haben. Sie haben einfach ihrem Herzen vertraut, ihrem Umfeld – aber das Umfeld schlug erbarmungslos zu. Sie haben ihr Umfeld nicht wirklich gekannt, ihre Gesellschaft, ihre Verwandten und Freunde. Das gibt es bei uns auch – nur eben nicht so deutlich. Auch wir leben in einer Gesellschaft, in der man Naivität bitter bereuen kann.

Wir kennen alle die Zukunft nicht – müssen uns aber in der jeweiligen Gegenwart so gut wie es geht verantwortlich äußern. Aufgrund der Gefahr, das eine oder andere falsch einzuschätzen, den Mund zu halten, ist undemokratisch. Denn wenn alle aus Vorsicht den Mund halten, kann Demokratie nicht funktionieren, weil dann Ideologen, die nicht den Mund halten, ein leichtes Spiel haben. Demokratie lebt vom Austausch der Argumente, der Meinungen – und darum auch davon, dass man sich die Argumente anderer zu eigen machen kann, wenn man sie überzeugend findet. Überzeugen und überzeugen lassen – mit Argumenten, darum auch bereit sein, Fehler in der Argumentation zu machen – und sie zu korrigieren… das ist demokratisch.

Aus Angst schweigen – ist keine Demokratie. Angst verbreiten – ist keine Demokratie. Mittel verwenden, die nicht der Argumentation zugehören – ist keine Demokratie.

Zur Demokratie gehört damit auch, dass man Menschen nicht als sture und starre Zombies betrachtet, sondern eben als lebendige Wesen, die lebendig ihre Meinung vertreten und auch ändern können, wenn sie der Meinung sind, dass es bessere Argumente gibt. Das heißt: Vergebung ist wesentlich; Rechthaberei, den anderen an Vergangenes zu fesseln, das er längst abgestreift hat – das alles ist inhuman.

Darum kann man nur appellieren: Leute, geht menschlich miteinander um. Nicht wie Ideologen und Fundamentalisten: hartherzig, rechthaberisch, unbarmherzig, arrogant. Ich weiß selbst, dass Überheblichkeit irgendein Glückshormon ausstoßen muss. Aber wenn das Gefühl kommt, muss man sich selbst gegenüber sehr misstrauisch werden.

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