Nein, jeder, der sich irgendwie mit Luther intensiver beschäftigt, stößt auf Themen, die uns heute nicht passen und die zeigen: Luther war ein Mann des Mittelalters. Wem sollte das bei einem Menschen aus dem 16. Jahrhundert wundern. Dass er Dreck am Stecken hat, wie man so schön sagt, wer weiß das nicht. Seine antijudaistischen (nicht antisemitischen!) Ausfälle in der zweiten Hälfte seiner Schaffensperiode, kennt inzwischen jedes Kind, das guten Religionsunterricht besucht – auch, dass Luther die Juden nicht um der Juden Willen hofierte, sondern weil er hoffte, dass sie Christen werden, weiß auch jeder, der im guten Unterricht nicht geschlafen hat. Dass er apokalyptische Intentionen hatte – weiß auch jeder, der den Satz vom Apfelbaum kennt: Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, ich würde heute noch einen Apfelbaum pflanzen. Seine Sicht vom Teufel ist mit dem berühmtesten Tintenfasswurf der Welt auch bekannt…. Usw. usw. Und dass der zartbeseitete Bürger über seine deftigen Worte die Nase rümpft – ist klar. Und dass er mit Haut, Haar und Herz Christ war, das können ihm halt nur Anti-Christusse vorwerfen. Dass man nicht erkennen kann, dass er ein toller Demokrat war, der die Gesetze unseres bürgerlichen Gesetzbuches geschrieben hat, dass er nicht die Sozialversicherungen erfunden hat – nun, das mag man ihm ankreiden. Oder hat er die Sozialversicherung schon vorgedacht? Hm.
Aber Luther war eben nicht nur ein Mann des Mittelalters, sondern hat dafür gesorgt, dass unsere Gesellschaft in Mitteleuropa sich massiv geändert hat. Nur mit seiner Vorarbeit ist die Aufklärung zu denken. Sein (und Melanchtons) bestreben nach Bildung in jedes Haus zu bringen, seine Lösung von Papst und Kaiser, seine Einigung des Landes durch die Bibelübersetzung, die Betonung der Demut, die Betonung des Gewissens usw. usw. – wahrscheinlich habe ich das Wichtigste bei diesem Brainstorming vergessen – ist äußerst wichtig für uns gewesen. Übrigens sein Kleiner und Großer Katechismus, seine unterschiedlichsten Schriften – wer vermag die Wirkungsgeschichte angemessen wiederzugeben?
Von daher mag man ihn kritisieren, mag ihn verbessern, mag dies und das mit ihm tun – aber es bleibt ein sich Reiben an dem mächtigen Baum. Dass Luther fehlbarer Mensch war – wer hat das besser gewusst als er selbst. Und die Rezeptionsgeschichte zeigt ja dann doch, was man von ihm weiterhin beibehalten möchte – und was man als „nicht hilfreich“ ansieht.
http://www.welt.de/kultur/article126395361/Neuneinhalb-Thesen-gegen-Martin-Luther.html An diesem polemischen Beitrag – weil er Luther aus der heutigen, ach so aufgeklärten und menschenfreundlichsten Zeit aller Zeiten beurteilt und nicht aus seiner Zeit heraus – kann man eine ganze Menge Korrekturen anbringen. Vor allem auch, dass nur Sätze genannt werden, die Luther in einem ungünstigen Licht darstellen, zusammenhanglos usw. usw. – das zeigt nicht gerade eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Reformator. Und nebenbei noch ein Seitenhieb auf Augustinus. Da reibt sich einer an zwei mächtigen Bäumen.
Mich hat übrigens die „Freiheit eines Christenmenschen“ von Luther sehr beeindruckt – und vielleicht auch geprägt.
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