Ich finde lustig, was Infantino sagte: »Für das, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren getan haben, sollten wir uns für die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, den Menschen moralische Lektionen zu erteilen« https://www.spiegel.de/sport/fussball/wm-2022-fifa-boss-gianni-infantino-wirft-kritikern-heuchelei-und-rassismus-vor-a-0cda51dc-bd18-49a2-b5e7-6faf56be1613
Lustig, weil er keine Ahnung zu haben scheint. Was war Europa vor 3000 Jahren?
Noch keine richtigen Römer waren vor 3000 Jahren im Blick. Die Griechen versuchten sich langsam zusammenzuschließen und schickten wilde Jungs übers Meer, um Kolonien zu gründen. Perser und Griechen kloppten sich. Alexander der Große (gestorben 323 v. Chr.) hatte Sehnsucht nach Indien. Dann kam so langsam das Römische Reich, die Wölfin hat die Zwillinge gesäugt (5. Jh. v. Chr.). Philosophie wurde aufgesogen und das Recht wurde intensiver ausgebaut, Wissenschaft und Technik begannen Höchstleistungen zu vollbringen. Die Expansion in die Welt brachte Reichtümer und Sklaven. Griechen wie Römer unterwarfen sich das kleine Judäa. Und Herrscher – nun denn – sie waren Herrscher wie überall und zu allen Zeiten: mal besser – überwiegend schlechter.
Jesus Christus wurde zur Zeitenwende im jüdischen Land geboren. Der christliche Glaube kam langsam nach Europa, seine Liebe und Aufopferungsbereitschaft fanden ein wenig Anklang, bis das Christentum ca. 300 nach Christus durch Konstantin dem Großen politisch stärker Einfluss bekam. Dann haben sich manche Mönchsgruppen gekloppt – und andere kamen dazwischen. Andere haben sich rührend menschlich im Sinne Jesu um Menschen gekümmert. Byzanz erhob sich im Osten aus dem Römischen Reich, und einige Jahrhunderte später begann Karl der Große (gestorben 814 n. Chr.) sein kleines mitteleuropäisches Reisereich zu festigen, und förderte Klöster (Bildung, Gesundheit, Infrastruktur) – naja, so klein war es dann doch nicht. Wir sind also bald ca. im Jahr 1000 nach Christus. Europa war geprägt von der Spannung: Leben gemäß des christlichen Glaubens – der heidnischen Traditionen – der Machtkonstellationen, denn mächtiger wollten immer alle sein, die es konnten. (Christliche Traditionen waren in Gesamteuropa erst im 13. Jahrhundert weitgehend vorhanden.) Und große Denker und Künstler haben den christlichen Glauben vertieft.
Was war im islamischen Bereich in dieser Zeit? Mohammed und seine Nachfolger haben im 7. Jahrhundert ihre Macht ausgebaut, militärische Heerzüge nach Ost und West ausgebreitet und „wohligen“ Schrecken, wenn man manchen Apologeten glaubt, verbreitend. Sklaven in Hülle und Fülle wurden genommen – Jahrhunderte hinweg, aus Europa und Afrika und wer weiß woher noch. Natürlich haben islamische Herrschaften auch zeitweise Kulturelles zur Menschheitsgeschichte beigetragen – vor allem durch die sozialen Verwerfungen, in denen Menschen unterschiedlichster Kulturen ihr Wissen zusammenlegen konnten. Ebenso war der aufgrund der Sklaven immense Reichtum eine Hilfe, sich sowas wie Wissenschaft überhaupt leisten zu können. Großartige Städte wurden entwickelt. Überfälle muslimischer Gruppen auf ihren Raub- und Sklavenzüge bis nach Genf und in Frankreich die Flüsse hinauf waren nicht besonders gern gesehen – in Europa. Im 9. Jahrhundert eroberten sie Sizilien. Und manchmal haben sich die muslimischen Herrscher gekloppt – und andere kamen dazwischen. Als die islamischen Seldschuken an die Grenzen von Byzanz anrannten, suchte der Herrscher, Alexios I., Hilfe im Westen. Ein paar europäische Horden zogen nach 1095 auf Bitten des Papstes Urban II. los und brachten Erleichterung für die Grenzen – oder auch nicht: eine wütete 1204 im Auftrag der Konkurrenzstadt Venedig in Konstantinopel herum. Langsam stieg das Wissen im Westen an – auch durch die Kreuzfahrer und Händler, die islamisches Wissen nach Europa brachten. Pest kam und dezimierte große Teile der Bevölkerung.
Im 15. Jahrhundert begann Europa aufgrund der Kolonialisierung reicher zu werden. Die Reformation kam im 16. Jahrhundert, damit der Versuch, intensivere Bildung unter das normale Volk zu bringen, Gewissen und Freiheit. Spaltung war die Folge. Mittel-Europa zerfleischte sich dann zum Teil im 30jährigen Krieg selbst – und im 17. Jahrhundert wurde es auch kalt – was manche in Mitteleuropa zur Hexenjagd trieb. Manche Teile der Bevölkerung waren barbarisch arm, manche Teile lebten in Prunk und Saus und Braus – wie heute. Manche Menschen waren großartige Kulturschaffende in üblen und in harmonischen Zeiten. In diesen Neuzeiten begann stärker die Säkularisierung und die Emanzipation von der traditionellen christlichen Religion. Kolonialisierungen wurden intensiviert und damit zusammen hängen Plünderungen Süd- und Mittelamerikas. Europa begann reicher zu werden, es forcierte hier und da der immer stärker zunehmende Sklavenhandel in amerikanische Kolonien – und Europa versuchte mit dem großen islamischen Reich auf Augenhöhe zu kommen. In Amerika gab es Völkermord – wilde Europäer wollten unter sich sein. In Europa selbst wurde die Spannung zwischen Arme, die nichts zählten, und Reichen, die sich über alle anderen erhoben, größer.
Im 18. Jahrhundert begann langsam die Aufklärung Fuß zu fassen, Wissenschaft, Recht, Nationen usw. konstituierten sich neu. Die Kolonialisierung islamischer Länder wurde verfestigt. In Saudi Arabien entwickelte sich der radikalislamische Wahhabismus, der dann weltweit in islamische Staaten exportiert wurde. Die Konzentration auf Tradition lähmte große Teile.
Im 20. Jahrhundert begann wieder die Selbstzerfleischung Europas – dieses Mal unter Einbeziehung der gesamten Erde – im 1. und im 2. Weltkrieg. Freilich ist auch Japan hier zu nennen. Atheistische Systeme versuchten die Welt zu retten – woraus dann allerdings nichts wurde, sondern Städte in Schutt und Asche gelegt wurden, Menschen zur Erziehung ermordet wurden. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Kolonien aufgegeben, Kämpfe, ausgelöst durch den Kalten Krieg zwischen Westen und kommunistischen Staaten, erschütterten viele kolonialisierte Länder. Die europäischen Nationen schrumpften auf sich selbst zusammen (Portugal, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien), blieben aber aufgrund technologischen Fortschritts weltweit dominant. Was sich im 21. Jahrhundert langsam ändert: Europa kommt zwischen die Mühlen der USA und China – und beide mischen irgendwie überall auf der Welt mit. Selbst im Universum. Islamische Länder wurden reich und reicher, weil die Industrienationen für ihre Technik und Wissenschaft Öl und Gas benötigten. Und mit dem Geld kaufen sie Aktien in den Technologieländern, werden somit immer mächtiger – und haben tolle deutsche Autos, manche auch Kunstwerke und Ingenieure.
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Und jetzt die Frage: Was, Katar ist 3000 Jahre zurück? Da irrt Infantino. Katar ist auf der Höhe der Zeit. Nur handelt es sich um eine andere Kultur, die ihre eigenen Gesetze kennt und auch ehrt. Das finden Europäer nicht unbedingt gut. Eigentlich ist es ihnen überwiegend egal. Aber manche interessieren sich dann doch für Menschenrechte. Zumindest manchmal. Wenn sie Lust haben, sich zu empören. Andere natürlich immer.
Dass Europa sich für die Taten, die Europäer seit 3000 Jahre getan haben, entschuldigen müssten, ist lachhaft. Wahrscheinlich meint er die letzten 300 Jahre der Kolonialisierung islamischer Länder. Aber wofür müssten die sich entschuldigen? Das ist Menschheitsgeschichte. Ich sehe kaum, dass sich islamische Staaten überhaupt Gedanken darüber machen, dass sie sich in Afrika und bei den Slawen, bei vielen Menschen aus dem großen Asien – und auch bei Christen – entschuldigen müssten. Wir müssen natürlich nicht tun, was sie tun. Aber: Was kann ich dafür, dass Adhemar das Kreuz nahm – oder was können die Muslime wegen der Taten – irgendeines ausgeflippten islamischen Herrschers der Vergangenheit? Natürlich müssen wir uns entschuldigen – weil wir technisch so tolle Ingenieure hatten – wegen der Umwelt und so und es uns gut gehen ließen. Das durfte natürlich nicht sein und so wollen wir reumütig Vorreiter der Weltrettung sein, auch wenn kaum einer folgt. Aber sonst?
Aber unschuldig und zurückgeblieben sind die islamischen Staaten nicht. Im Gegenteil. Infantino wollte sicher nicht die islamischen Staaten beleidigen. Aber seine Unwissenheit ist schon massiv. Zumindest im Zorn.
3000 Jahre westlich orientierte Menschheitsgeschichte waren das. Und was wird in 3000 Jahren sein, in denen wir uns entschuldigen sollen? Ewige Infantino-Schuldner Katars sind wir. Ewige. Was unsere Arroganz betrifft, da hat er natürlich Recht. Wir sehen eben die Welt aus eurozentristischen Augen, mit christlicher Kultur und Menschenrechten im Hintergrund, Würde des Menschen haben wir erkämpft. Machen es andere Kulturen besser?
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