Wach auf, wach auf…

Ein paar spontane Anmerkungen zur gegenwärtigen Diskussion (wird irgendwann fortgesetzt):

Das Lied: „Wach auf, wach auf, du deutsches Land, du hast genug geschlafen“ ist ein Bußlied zur Erneuerung des Glaubens. Weg von Sünde, falscher Lehre, das Volk soll verantwortungsvoll leben, aus Dankbarkeit, weil Gott es von Strafen befreit. Es wurde im Jahr 1561 veröffentlicht, gedichtet von Johann Walter. https://de.wikipedia.org/wiki/Wach_auf,_wach_auf,_du_deutsches_Land Es fordert dazu auf, wieder zu Gott zurückzukehren – es geht um religiöse Erneuerung – allerdings gegen den alten Katholizismus. Dennoch: es geht nicht in erster Linie um einen Kampf gegen jemanden, sondern um Hinwendung zu Gott mit moralisch guten Folgen. Aufgegriffen wurde es vermutlich intensiver im 17. Jahrhundert im Kontext des 30 jährigen Krieges, was ich jedoch noch eruieren muss. Im Hintergrund dürfte der alttestamentlich-prophetische Gedanke stehen, dass Gott einem Volk, das nach seinem Willen handelt, Frieden schenkt.

Dieses Aufwachen wurde von Theodor Körner ebenfalls formuliert im „Lied zur feierlichen Einsegnung des Preußischen Freikorps“, 1813. https://www.gedichte7.de/lied-zur-feierlichen-einsegnung-des-preussischen-freikorps.html Dieses Lied gehört mit zu den schrecklichen Liedern, in denen Krieg und Gott miteinander verknüpft werden. „Was uns mahnt zu Sieg und Schlacht, / Hat Gott ja selber angefacht. / Dem Herrn allein die Ehre!“ Usw. Das Vaterland wird religiös überhöht: „heil´ge Erde“. Es geht in diesem Kampf um einen Kampf gegen Tyrannei und für die Freiheit. Gott selbst erweckt die Lust zum Siegen, Lust, für die gerechte Sache zu kämpfen – diese Lust kommt von Gott selbst. Und es folgt: „Auf, deutsches Volk, erwache!“ Durch den Tod führt Gottes Freiheit Morgenrot: „Dem Herrn allein die Ehre!“ Dieses Lied gehört mit zu den Liedern, die zur Befreiung von der Herrschaft durch Napoleon aufruft. Es ist ein patriotisches Lied. Aus christlicher Sicht vollkommen unangemessen, aus nationaler Sicht aber verständlich, man denke an entsprechende Lieder der Befreiung gegen Fremdherrschaften. (Begegnet die Metapher vom „Erwachen / aufwachen auch bei Ernst Moritz Arndt? Das müsste ich noch nachforschen, könnte passen.)

Auch Dietrich Eckart hat im so genannten „Sturmlied“ von ca. 1920 zum Aufwachen aufgefordert https://de.wikipedia.org/wiki/Sturmlied . Dieses Lied wurde von Nationalsozialisten massiv verwendet, um die Emotionen aufzupeitschen – im Kampf gegen Juden. Es ist eines der schrecklichen Gedichte, in denen Menschenverachtung gefeiert wird. Hier ist der Rassismus das tonangebende Motiv, triefend von nationalsozialistischer Gesinnung. Passend dann von der SA aufgenommen. Passend, weil es zur martialischen und Menschen verachtenden Ideologie passte – und eben auch zu grausamer Gesinnung und später zu grausamen Taten führte. (Zitieren möchte ich es nicht – weil man nie weiß, welche juristischen Folgen es haben kann.)

1929/1930 hat Kurt Tucholsky aus kommunistischer Sicht das Lied von Eckart aufgegriffen, um zu zeigen, dass der Nationalsozialismus / Faschismus zum Tod führt. http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1930/Deutschland+erwache! Es schließt mit: Deutschland, siehst du das nicht? Das Eckart´sche / nationalsozialistische Erwachen führt zu Bürgerkrieg, Gewalt, zur Unterwerfung unter das Völkische, zu Krieg. Das merken die Deutschen alles nicht – aber: so schließt der Text: „Wir sehen. Wir hören. Wir fühlen den kommenden Krach. / Und wenn Deutschland schläft -: / Wir sind wach!

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Was wird daraus deutlich: Es gibt Unzufriedenheit mit den Zuständen des Landes. Diese Unzufriedenheit hat unterschiedliche Gründe. Mit emotionalisierenden Worten wird zu Unterschiedlichem aufgerufen. Das heißt: Es kommt auf den Kontext an, in dem etwas formuliert wird, der zur Ablehnung bzw. zur Akzeptanz führt.

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Auch diese Texte greifen auf alte Traditionen zurück:

Der Wächterruf begegnet schon im Alten Testament: z.B. Jesaja 21,11-12 und Hesekiel/Ezechiel 33,1-9. Städte, Dörfer mussten bewacht werden, während andere schliefen. Diese Aufgabe wurde metaphorisch von Propheten aufgegriffen, zum Beispiel um das Volk Gottes vor Unheil zu warnen. Das Volk soll sich nicht ins Verderben schlafen. Jesus greift die Metaphorik in dem Gleichnis von den 10 Jungfrauen/Brautjungfern auf. Auch sonst geht es darum, zu wachen, damit man nicht von Gott in seiner Sünde und Gottlosigkeit überrascht wird. Wach sein, sich entsprechend dem Willen Gottes verhalten, darum geht es im Leben. Das ist das Zentrum der Aussagen – es geht also um eschatologisch/moralische Ermahnung. Es ist freilich ein Unterschied, wenn es darum geht, wach zu bleiben oder aufzuwachen bzw. zu wachen. Aber das verschmolz im Laufe der Zeit.

Im Mittelalter wurde auch die alttestamentliche Form aufgegriffen, die die Seele aufruft, aufzuwachen (wie schon in den Psalmen 57,9; Aufruf an das Herz/die Seele, aufzuwachen, um Gott zu loben EG 446: Paul Gerhardt 1647). Sie soll sich von Sünde/Nacht abwenden, hin dem Morgen/Licht zu. „Wachet auf, ruft uns die Stimme…“ dichtete Philipp Nicolai 1599. Der Wächterruf wurde in dem Lied mit dem genannten Gleichnis Jesu verbunden. Es geht um inneres Erwachen, um eschatologisches Erwachen.

Jesaja 51,9: „Wach auf, wach auf! Zeig, wie mächtig du bist, Herr! Wach auf und zeig deine Stärke wie in alten Zeiten…“; 51,17 heißt es „werde wach, werde wach, Jerusalem“ – die Strafe ist vorbei; und 52,1f. – Jerusalem wird aufgefordert, aufzuwachen und die Fesseln der Unterdrückung abzuwerfen, denn Gott handelt. In diesen Texten wird der Aufruf in politische Kontexte eingebunden. Aber eher in dem Sinn, aufzuwachen und zu sehen, dass Gott eben politisch befreiend handelt und diese Befreiung wahrzunehmen, zu realisieren.

Es ging also um das Erwachen Gottes und des Volkes im AT angesichts des Handelns Gottes und um Aufwachen der Seele. Das konnte dann in der Reformationszeit auf das Volk übertragen werden – während in der Zeit auch in manchen Texten stärker das Erwachen der Seele betont wurde, damit sie Gott erkenne, sich Gott unterordne bzw. Gott lobe. In der Zeit der Befreiungskriege und im 20. Jahrhundert wurde der nationale / nationalistische Ansatz herausgearbeitet, Buße und moralisches Handeln kommen nicht mehr vor. Gott handelt durch die nationalen Kämpfer, nicht mehr als eigenständige geschichtswirksame Größe. Der eschatologische Ansatz, bereit sein für das Kommen Gottes, wurde ersetzt durch eine nationale gute Zukunft bzw. im Kampf: wer gefallen ist, kommt, platt gesagt, zu Gott.

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Stay woke – natürlich ist das Thema Woke nicht mit dem Text von Eckart zu vergleichen. Die aggressive Vorgehensweise mancher, die sich als Woke gebärden, kann freilich zeigen, dass dies ebenfalls eine moderne Ideologie ist, die nur die englische Sprache aufgenommen hat, nicht mehr in deutsch formuliert. Wachsam sein gegen Diskriminierung – eine wichtige Sache. Das ist voll mit dem christlichen Glauben kompatibel – wenn es denn nicht zu einem Zwang, einem Kampf gegen andere wird, sondern eine persönliche Einstellung zum Guten in der Gesellschaft. Wenn die Aufwacher andere zwingen – passt das auch nicht so ganz in die demokratische Landschaft, auf die wir zu recht stolz sind, die wir zu recht verteidigen. Die Freiheit des Individuums darf nicht durch intolerante Ideologen eingeschränkt werden.

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Anmerkung:

Das Erwachen spielt auch in der Tradition von Frankreich (réveil) eine wichtige Rolle – bürgerliches erwachen von der Schreckensherrschaft hin zur Vernunft usw. Ebenso in Großbritannien („Awake, arise…“). Aber das ist ein Thema, das ich noch erarbeiten müsste.

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