Die Diskussion um das Verhalten der Bundeskanzlerin in der Begegnung mit Reem will nicht verstummen: Politik kommt aus dem Elfenbeinturm, Politik begegnet der Realität…
Nein. Politik kann nicht Politik für das jeweilige Individuum sein, sie muss die Realität als Gesamtheit in den Blick nehmen. Wenn das Individuum allein im Blick ist, dann müsste sie Sterbehilfe (im negativen Sinn) verbieten und erlauben. Verbieten, weil sehr viel Schindluder damit getrieben werden kann, erlauben, weil es Menschen gibt, die sie benötigen. Entsprechend Abtreibung, Hartz IV, usw. usw.
Politik muss einen Weg für die Gesamtheit der Individuen finden und kann nicht Individualpolitik sein. Das bedeutet im Fall der Migranten – Flüchtlinge ist der Weg vom Grundgesetz vorgegeben – dass nicht jeder individuelle Migrant aufgenommen werden kann, so gerne man es auch aus menschlichen Gründen tun würde, denn die Realität in der Bevölkerung zeigt, dass das nicht geht. Das Land kommt an die Grenzen seiner Kapazitäten, seiner finanziellen, materiellen Möglichkeiten. Natürlich kann man allen Kleider und ein Zelt geben. Aber das ist ja nicht die Realität. Sie müssen mehr bekommen als Kleider und Zelt. Vor allem müssen sie betreut werden, damit sie in unsere Gesellschaft integriert werden. Und bekanntlich sind manche auch gar nicht bereit, sich integrieren zu lassen, sondern bereiten der Gesamtgesellschaft und deren Individuen (!) große Schwierigkeiten. Welches Individuum geht vor: Das in unser Land kommende Individuum oder das im Land lebende Individuum? Und hier muss die Politik Wege finden, allen gerecht zu werden – auch mit Blick auf die Zukunft. Da das nicht geht, muss sie den Weg finden, der möglichst realistisch ist. Und sie muss auf der Suche nach dem richtigen Weg eben auch Prioritäten setzen.
Und das gilt auch für Griechenland. Am liebsten würde wahrscheinlich jede Regierung das Land mit Geldern und Firmen und Fachleuten zuschütten. Das geht bekanntlich nicht, weil die Realität so aussieht, dass man realistische Wege finden muss. Phantasiewege tragen nicht lange und man fällt in den Abgrund. Die Befürchtungen bestehen, dass am Ende ganz Europa wie Griechenland am Rand des Bankrotts steht. Welcher verantwortlich denkende Politiker möchte das schon als gangbaren Weg ansehen?
Zurück zum Thema: Jeder, der der Kanzlerin aus seiner kleinen Welt heraus irgendeinen Vorwurf in dieser Frage macht, sollte sich einfach mal Individuen mit unterschiedlichsten Vorstellungen vor Augen halten, dann wird er vielleicht merken, dass Politik nicht daraus besteht, aus lauter Mitleid mit einem Individuum die Gesetze entsprechend zu gestalten, sondern mit diesem Individuum und vielen anderen widerstreitenden Individuen ein für möglichst viele gangbaren Kompromiss zu finden. Ich denke, Merkel hat aus ihrer Position heraus und daraus, dass das Mädchen eine Fremde (nicht weil sie aus dem Libanon kommt, sondern weil sie ihr unbekannt war) für sie war, richtig reagiert: emotional aber zurückhaltend.
Noch ein paar Beispiele dafür, dass weinende Menschen nicht die politischen Handlungen bestimmen dürfen? Emotionen sind wichtig – Solidarität mit Weinenden ebenso, aber es hat seine Grenze: Wenn jeder Lehrer einem weinenden Schüler eine gute Note geben würde, weil er weint, könnten wir die Noten abschaffen, und müssten uns nicht mehr um den Schüler kümmern; wenn jeder Arzt nicht wagen würde zu operieren, weil der Patient Schmerzen dabei hat, würde es dem Patienten auch nicht besser gehen, und die Medizin würde sich nicht um schmerzlose Operationen kümmern. Wenn jeder Händler für seine Ware kein Geld verlangen würde, weil der Kunde klamm ist, wäre er bald pleite; wenn jeder Polizist einen weinenden Kriminellen laufen ließe…
Darum ist der Vorwurf an die EU zu richten. Sie hat in der Migrantenfrage die letzten Jahrzehnte verschlafen, statt zu versuchen, in den Ländern selbst solche Bedingungen zu ermöglichen, dass die Menschen nicht fliehen müssen.
Nachtrag: http://www.dw.com/de/reems-vater-merkels-reaktion-hat-mich-gefreut/a-18592795
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