Was ich zuvor sagen muss, damit kein schiefes Bild entsteht: Ich bin kein Forscher, weder einer, der die Texte wissenschaftlich erforscht hat, noch die Zeit, in denen die Texte formuliert wurden. Es sind Laienhafte Beobachtungen und Darlegungen.
Das, was Paulus in dem Philipperhymnus beschreibt:
Jesus war bei Gott – Präexistenz,
Jesu Menschwerdung
Jesu Sterben am Kreuz
Jesu Auferstehung
Jesu Herrschaft
das wird in den Hymnen, Gedichten, Liedern usw. später entfaltet. Manche betrachten diese genannte Bewegung des Philipperhymnus, viele andere nehmen einen Aspekt und legen diesen dann intensiv dar. Und alles mit Blick auf die Bedeutung des Heilshandelns für die Menschen. Die Welt wird transformiert, zum Beispiel wird das Leiden in Gottes Licht getaucht und wird leichter zu ertragen. Die christliche Dichtkunst musste sich erst langsam mit Hilfe der heidnischen Dichter entwickeln. Man musste Worte für das ganz Eigene des christlichen Glaubens finden, ihn Sprache werden lassen.
- Paulus hat diesen Philipper-Hymnus in den Kontext moralischen Handelns gestellt. So wie Jesus sich selbst erniedrigt hat, so sollen auch die Menschen der Gemeinde miteinander umgehen. Moralische Fragestellungen werden in vielen Texten aufgegriffen.
- In dem Philipper-Hymnus fehlt die Aussage, dass Jesus Christus kommen wird, der apokalyptische Aspekt. Das Kommen Jesu spielt auch in den hier vorgestellten Texten kaum eine Rolle. Es ist der individual-apokalyptische Aspekt vor allem im Mittelalter betont worden: die Hölle im Gegensatz zum Himmel (zum Sein bei Gott).
- Paulus schreibt im Brief an die Galater 3,1: „euch ist Jesus Christus als der Gekreuzigte vor Augen gemalt worden“. Dieses kommt zum Beispiel in der Jesus-Christus-Mystik eines Bernhard von Clairveaux intensiv zum Ausdruck, während in vielen anderen Texten es den Dichtern wichtig war, die Menschwerdung vor Augen zu malen: Der Säugling Jesus als Sohn der Maria in der Krippe liegen. Das Leiden Jesu als Hilfestellung im eigenen Leiden wird durch die gesamte Zeit deutlich.
- Die Jesus-Minne-Mystik fügt zu dem Philipper-Hymnus einen Aspekt hinzu: Präexistenz – Menschwerdung – Kreuzestod – Auferstehung – Herrschaft – und dann wieder die Vereinigung Jesu mit der Seele. Was in den Texten nicht ganz so zum Ausdruck kommt ist dann auch die Vereinigung des Körpers mit Jesus Christus, deutlich an den Stigmata des Franz von Assisi. Die Texte, die mir bekannt geworden sind, haben eine andere Intention. Das Ich spielt in diesen Liedern eine Rolle – nicht das Wir, das Individuum als Seele – nicht die Gruppe als Gemeinde, als Kollektiv. Vereinigung im Geist durch den Heiligen Geist gemeinsames ekstatisches Erleben bzw. wie wir schon im NT hören: Einheit mit Christus wird am Beispiel des Leibes verdeutlicht. Ein weiterer Aspekt: Christus und Ich werden in der Eucharistie zusammengeführt.
- Dieser Aspekt, dass Jesus Christus sozusagen wieder auf die Erde kommt, ist nicht nur in der Minne vorhanden, sondern ist auch die Grundlage der Gedichte: Jesus Christus wird im Wort gegenwärtig.
- Übergangen werden darf nicht, was auch im Philipper-Hymnus keine Rolle spielt, die Betonung des Heiligen Geistes im Heilshandeln. Das wird immer wieder besungen in vielfältigen Formen.
- Maria bekommt eine große Bedeutung, die in vielen Liedern ihren Ausdruck findet. Maria ist das Auge, durch das der Betrachter Jesus Christus ansieht, sie selbst rückt immer stärker in den Mittelpunkt als die, in der Gott Mensch wurde. Die Marien-Hymnen habe ich in meinen Darlegungen jedoch ausgelassen. Ebenso all die Gedichte, die Märtyrer und andere Heilige in den Mittelpunkt stellen. Sie sind als Vorbilder für das Verhalten sehr bedeutsam geworden, was hier jedoch nicht genügend gewürdigt werden konnte.
- Im 13. Jahrhundert wird der Priester in diesem Prozess der Zueignung des Heilshandelns immer stärker betont. Das auch in der Kritik. Denn die Kritik zeigt ja, dass ein gewisses Bild vor Augen liegt, an dem dann die Realität gemessen wird.
- Was ich eigenartigerweise nicht wahrgenommen habe ist das, was das Magnifikat betont: die politische Dimension des Glaubens.
Ich habe das ganze Thema konzeptionslos begonnen. Während der Arbeit dachte ich, es wäre doch gut gewesen, die politischen Ereignisse kurz voranzustellen, die Aufregungen der Zeit. Im Nachhinein war ich froh, es nicht gemacht zu haben, weil man daran sieht: Die Gedichte haben zwar zeitbedingte Schwerpunkte, aber man sieht doch auch, dass durch alle Zeit-Wirrnisse, allen chaotischen Zuständen der Glaube eine Konstante hat: Jesus Christus.
Schön zu sehen ist auch die Vielfalt des Glaubens. Christlicher Glaube erschöpft sich nicht in einem Zugang – er ist so vielfältig wie der Mensch, weil Gott sich dem jeweiligen Individuum als Individuum zuwendet.
Der Rote Faden, den ich immer wieder eingebracht habe, ist: Grenzen werden durchbrochen. Der Mensch lebt innerhalb seiner Grenzen. Und diese Grenzen werden im Glauben immer wieder gesprengt: Der Tod ist keine Grenze mehr. Der Mensch, der weiß, wie klein und wehrlos er ist, erkennt seine Größe, die nicht darin besteht, alles zu übertrumpfen, sondern darin, Gottes Willen annähernd tun zu können. Das Verhalten kann sich im Sinne Gottes ändern. Schuld beengt nicht mehr, Vergebung befreit. Menschen werden zu einer wahren Gemeinschaft zusammengeführt. Es wird nicht allein die Liebe besungen, die Natur, der Blick geht weiter, über die Schöpfung hinaus zum Schöpfer: die Welt wird zum Gleichnis. Das zeigen schön die Lieder des Ambrosius. Für Christen gibt es keine Grenzen, selbst bösartige Menschen sind es nicht mehr, ebenso wenig das Leiden – auch an Einsamkeit. Denn das Ziel liegt vor Augen: Gott. Darum beherrschen nicht Klagen die Gedichte, letztlich der Jubel.
Grenzen werden durchbrochen – vielfach aber nur verschoben, damit spätere Generationen diese durchbrechen können bzw. weiter schieben.
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Häufig verwendete Literatur (weitere ist an den jeweiligen Abschnitten angegeben):
- Klaus Berger/Christiane Nord: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Insel, Frankfurt/Leipzig 1999
- Dietrich Bode: Deutsche Gedichte. Eine Anthologie, Reclam, Stuttgart 2008
- Felix Braun: Der tausendjährige Rosenstrauch. Deutsche Gedichte, Paul Zsolnay, Wien 1973
- Horst Brunner: Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick, Reclam, Stuttgart 2019
- Das Hymnarium. Der Hymnenschatz der lateinischen Kirche http://hymnarium.de/
- Johann Kayser: „Beiträge zur Geschichte und Erklärung der ältesten Kirchenhymen : mit besonderer Rücksicht auf das römische Brevier“ Schöningh 1881
- Friedhelm Kemp (Hg): Deutsche Geistliche Dichtung, Kösel, München 1062
- Jörg Löffler/Stefan Willer (Hg): Geistliche Lyrik, Reclam, Stuttgart 2oo6
- Stephan Müller (Ü, Hg, Komm.): Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie, Reclam, Stuttgart 2007
- J. Rauchenbichler: Gesänge der Heiligen, Landshut 1837
- Alois Weimer: Gebete der Dichter. Große Zeugnisse aus 12 Jahrhunderten, Kösel, Düsseldorf 2006
- Friedrich Wolters. Hymnen und Lieder der christlichen zeit vom 1.-15. Jahrhundert, Georg Bondi, Berlin 1923
- Hinweisen möchte ich noch auf: http://alte-lieder.de/
- Bekenntnisse der Kirchenväter (BKV) – eine Reihe, in der Texte der jeweiligen Kirchenväter zu finden sind.
Datenschutzerklärung – https://www.wolfgangfenske.de/ – http://blumenwieserich.tumblr.com/