Man kann in seiner überschaumenden Nächstenliebe den anderen zum Objekt degradieren. Man macht an ihm herum, kommandiert zu seinem Wohl – ohne dass er es will. Das wie der berühmte Pfadfinder, der ein Mütterchen über die Straße zerrt, obwohl sie gar nicht will, weil er dachte , sie wolle über die Straße – und ihr Wehren zeige nur ihre Angst und das förderte noch seinen Helferdrang. Und am Ende war er sicher sehr zufrieden mit sich selbst, weil er doch so toll geholfen hat.
Jesus geht einen anderen Weg: Was meinst du, fragt er im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, was meinst du, wer war dem Notleidenden der Nächste? Wer ist dem Notleidenden Nächster geworden? Das heißt, Jesus lehrt die Perspektive des anderen einzunehmen und zu schauen, ob er meine Hilfe wirklich benötigt. Und er fragt, was der Nächste benötigt. So fragt Jesus in einer Blindenheilungsgeschichte: Was soll ich dir tun? Obgleich man doch sehen konnte, dass der Bittsteller blind ist. Aber: Auch Blinde haben unterschiedliche Probleme – nicht allein ihre Blindheit.
Dann muss man aber auch, wenn man die Perspektive des anderen einnimmt, seinen Verstand einschalten. Denn es gibt Notleidende, die den helfenden Menschen beschlagnahmen wollen und ihn im Grunde als Sklaven behandeln. So hätte der Verletzte, dem der barmherzige Samariter geholfen hat, sagen können: Bleib bei mir, pflege du mich, du kannst es, diejenigen, denen du mich überlassen willst, sind sicher Halsabschneider und lassen mich hier verrecken! Aber der barmherzige Samariter würde sagen: Nichts da! Ich gebe ihnen mein Geld, damit sie dich pflegen, ich werde, wenn mein Handel abgeschlossen ist, auf dem Rückweg wiederkommen und wenn nötig noch mehr Geld bezahlen. Ich habe Vertrauen zu ihnen.
Auch Nächstenliebe zu üben, ist schwer. Liebe ist für Jesus kein überwallendes romantisches Gefühl, sondern das zu tun, was der Nächste an Gutem benötigt – um Nächstenliebe zu haben benötigt man selbst Empathie und Verstand.
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