Theodizee 1

Es gibt in Religionen und Kulturen einen Antwort-Pool zum Thema der Theodizee – wobei deutlich sein muss, dass die Theodizee-Frage sehr häufig mit der Anthropodizee-Frage verbunden ist. Besonders viele Antwort-Möglichkeiten gibt der christliche Glaube – auch aufgrund der Leidensgeschichte Jesu. Das mag ein Nachteil sein, weil er nicht die eine Antwort an die Hand gibt – kann aber auch als Vorteil gesehen werden, wie in den folgenden Abschnitten in kommenden Tagen dargestellt werden wird.

Aus diesem christlichen Antwortpool kann man sich rational die jeweiligen Antworten aussuchen – wohl wissend, dass die jeweiligen Antworten nicht die Lösung aller Probleme ist. Vor allem auch darum nicht, weil nicht das „Warum“ Gott Leiden zulässt/bewirkt usw. beantwortet wird, sondern nur – aber das ist schon viel – Möglichkeiten geboten werden, mit dem Leiden umzugehen.

Von rationalen Verstehensversuchen zu unterscheiden ist die authentische Theodizee, also die Zeit, in der man mit dem Leiden welcher Art auch immer selbst verwoben ist. Dann genügen oft rationale Antworten nicht, man muss sich Antworten, die in der jeweiligen Not-Situation plausibel erscheinen, erkämpfen. Vielleicht auf der Basis der rationalen Antworten. Schmerz ist subjektiv, lässt sich nicht verobjektivieren. Und der Mensch, der Schmerz erlebt, ist ein Individuum, das diesen subjektiven Schmerz verarbeiten muss. Und viele Menschen versuchen das in ihrer jeweiligen individuellen Beziehung zu Gott.

Und die jeweiligen Antworten, die man sich für sein eigenes Leben und Leiden gibt, können andere als zynisch, als kurios, als unzureichend wie auch immer interpretieren. Man selbst bleibt ja auch nicht bei einer Antwort stehen, sondern erkämpft sich aus der Beziehung zu Gott heraus weitere Antworten, verwirft alte Antworten. Man wächst in der Auseinandersetzung mit Gott. Die Beziehung zu Gott ist lebendig, nicht statisch und starr. Sie ist Teil des Lebens.

Man kann freilich auch sagen: Lasst Gott aus dem Spiel, dann wird alles einfacher. Diese Aussage kann sowohl aus frommer Perspektive als auch aus religionskritischer Perspektive gemacht werden. Auch sie mag vielleicht den einen oder anderen in bestimmten Situationen zeitweise befriedigen. Aber der Mensch wird auch diesen Umgang mit dem Leiden als unzureichend und wenig hilfreich ansehen. Welche Antwort auch immer erkämpft wurde, sie ist nur als Durchgangsstadium zu weiteren Versuchen, das Leiden einzuordnen, anzusehen.

Wie unterschiedlich Menschen mit dem Leiden umgehen können, ist an der Familie von Sophie Scholl bzw. an Sophie Scholl selbst zu sehen. Das werde ich in den nächsten Tagen an den einzelnen Personen darstellen.

  • Basis meiner Darstellung:
  • B = Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biografie, Insel Verlag Berlin, 2. Auflage 2017 (1. Auflage 2010) (insel taschenbuch 4049)
  • M.G. =  Maren Gottschalk: Schluss. Jetzt werde ich etwas tun. Die Lebensgeschichte der Sophie Scholl, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2012/2016
  • O.A. = otl aicher: innenseiten des krieges, Fischer Verlag Frankfurt/M. 3. Auflage 2011 (1. Auflage 1998)
  • Daten vor 18.2.1943: Inge Jens (Hg): Hans Scholl, Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Fischer Taschenbuch Verlag, 9. Durchgesehene Auflage 2005 (1. Auflage 1984)
  • Daten nach 12.4.1943 =Inge Aicher-Scholl (Hg.): Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 1993

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