Texte – Texte bestehen aus zusammengefügten Wörtern. Worte – zusammen gefügte Wörter, Gedanken – müssen verstanden werden. Der Sinn eines Textes wird unter anderem durch Rezipienten erhoben. Wir sind in dieser Frage bei der Argumentationswissenschaft, der Rhetorik, der kognitiven Linguistik… Man muss sich einlesen in Texte. Man muss lesen üben. Nicht jeder versteht philosophische, juristische, medizinische… Texte. Manchmal ist Verstehen einfacher – wenn es den Alltag betrifft, um das bekannte Beispiel zu nennen: Der Kellner ruft einem anderen Kellner zu: Das Schnitzel da hinten in der Ecke will bezahlen! Größeren Blödsinn kann ein Mensch kaum sagen. Aber, das Hirn versucht sich den Sinn dieses vollkommen unlogischen Satzes zu erarbeiten. Mit Hilfe dieser Worte und aus dem Kontext heraus weiß also der Kellner, dass der Gast, der ein Schnitzel verzehrt hat und in einer Ecke auf einem Stuhl am Tisch sitzt, fertig gespeist hat und nun bezahlen will. Sprechen wie verstehen ist immer ein kreativer Prozess. Die Wörter: Er trank ein Gläschen zuviel – sind sinnlos. Nun arbeitet das Hirn, was das Zeug hält und ist in der Lage, diese sonderbare Wortzusammenstellung zu interpretieren. Es ist hier nicht der Ort, das alles darzulegen – ein Thema, das ich in meiner Habilitationsarbeit vertieft hatte. Kurz gesagt: Interpretation ist nicht nur von rational-logischen Faktoren bestimmt. „Wahrheit“ auf das zu reduzieren, was man naturwissenschaftlich nachvollziehen kann, reduziert die Komplexität in einem extremen Maß, so dass wirkliches Verstehen unmöglich wird. Wir sind abhängig von Sprache, lebendiger, flexibler Sprache. Der Mensch mit seinen Traditionen, seiner Erziehung, seinem Charakter, seinen augenblicklichen Emotionen, seinen Interessen, seinem ästhetischen Gefühl, seiner Moral, seine Weltvorstellungen insgesamt prägen die Interpretation. Es gibt Argumentationskulturen, wissenschaftliche, künstlerische, juristische, religiöse, Argumentationskulturen, es gibt Hochsprache, Sprache der Straße… (ich habe sie schon einmal unter „Sprachspiele“ erwähnt). Man muss die Wörter verstehen, aber auch den Inhalt, die Worte, den „Geist“ des Textes. Diese sind nur unter Verzicht von Lebendigkeit rein logisch zu erheben. Man versucht Sprache mathematisch logisch darzustellen (Logik-Linguistik), aber eine solche Sprache hat für die alltägliche Verständigung keine Relevanz.
Damit sind wir bei der Interpretation, die auch für die Interpretation der Bibel gilt. Die Bibel besteht aus Texten. Das, was die Texte sagen, muss erkannt werden. Um das, was die Texte sagen bzw. Autoren sagen wollten, bedarf es der Regeln der Textauslegung. Da es sich um alte Texte handelt, müssen wir auch zum Verstehen der Texte historische Forschung betreiben.
Weitergehend: Interpretationen sind nicht willkürlich, denn wie Texte interpretiert werden, wird auch durch die Tradition, die Kultur, durch das jeweilige Individuum bestimmt. Von daher fällt es uns aus der westlichen Kultur so schwer, buddhistische Texte zu verstehen oder Texte des Koran bzw. Menschen der Moderne, denen die Sprache des Glaubens fremd geworden ist, verstehen die biblischen Texte nicht mehr.
Neben dieser Interpretation mit Hilfe von Regeln wird seit vielen Jahrhunderten versucht, die Bibel mit Hilfe des Geistes Gottes auszulegen, dem man sich öffnet (innere Klarheit), mit Hilfe des Gebetes, der Meditation. So erschließt sich Gott dem Leser – es findet eine Verbindung zwischen Gott und Leser statt. Diese beiden Aspekte werden schon von Augustinus bedacht: Regeln + Verstehen mit Hilfe des Geistes Gottes gehören zusammen. Das ist die spezifische christliche Erfahrung.
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Nun entdecken nicht erst schlaue Menschen der Gegenwart, dass die Bibel unterschiedlich ausgelegt wird, dass Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt werden, dass überhaupt die Texte der Bibel vielfältig sind. Menschen können sich täuschen, lesen nur das in die Bibel hinein, was sie herauslesen wollen usw. Das gibt es bei jeder Textinterpretation – aber im christlichen Glauben nennt man das seit alters: Es geht um die Unterscheidung der Geister – also wer liest richtig, wer liest falsch? Und das ist eine ständige Auseinandersetzung innerhalb der Kirche. Als Glaubende geht man davon aus, dass sich Gottes Geist trotz aller „Irrungen und Wirrungen“ immer stärker durchsetzen wird. Das, obwohl in manchen Zeiten unter menschlicher Arroganz und Machtgelüste… er ganz zum Verstummen bzw. „Verstimmen“ gebracht wird – bis er sich wieder aus den Trümmern erhebt.
Damit ein falsches Lesen möglichst verhindert wird, benötigen diejenigen, die die Bibel lesen, der Kommunikation mit der Gemeinde, das in einem umfassenden Sinn. Einmal mit der Gemeinde der Gegenwart vor Ort – „reading with“ – eine Formulierung, die mit der Theologie der Befreiung ausgesprochen wurde: Man liest gemeinsam mit anderen die Bibel, um gemeinsam den richtigen Sinn zu erschließen. Man liest sie unter Berücksichtigung anderer Christen außerhalb des jeweiligen Ortes, zum Beispiel mit Hilfe von (wissenschaftlichen) Kommentaren, Biographien,… Das geht soweit, dass auch Kunst und Musik Bibelinterpretationen sind, die man berücksichtigen sollte. Entsprechend gestalte ich meinen Blog: Kunst, Literatur, unterschiedliche christliche Positionen… Wichtig ist also, dass die unterschiedlichen Gruppen miteinander kommunizieren, dass man auch die Traditionen nicht vor lauter Hochmut der Nachgeborenen übergeht. Dort, wo Christen das Gespräch mit anderen Christen verweigern, haben wir Fundamentalismus bzw. Ideologie vorliegen. Und es gibt nicht nur frommen Fundamentalismus und fromme Ideologie, sondern auch solche der Menschen der jeweiligen Moderne, die meinen, sie hätten den Durchblick und alle anderen müssten sich ihnen anschließen – ohne Bibel zu lesen. Moderner Fundamentalismus ist genauso gefährlich wie alter Fundamentalismus, weil er Gespräch verweigert und ideologische Züge trägt.
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Zurück zum Bibel lesen: Wozu kommt man dann, wenn man das alles berücksichtigt? Wie bei der Theodizee nicht zu abstrakten und für alle allen Zeiten gültigen Ergebnissen, sondern verbunden mit den persönlichen Erfahrungen, den Erfahrungen der Kirche in der Zeit kommt man zu Schlussfolgerungen, die für die jeweilige Zeit relevant sind. Denn man liest als Mensch seiner Zeit, seines Ortes, seiner Mitmenschen. Diese Exegese ist eine, die nicht nur durch den Verstand stattfindet, sondern der ganze Mensch, bzw. die Gruppe im gesamten Lebensvollzug, ist daran beteiligt. Nicht nur das rational reduzierte Hirn. Unabhängig von unserem Leben gibt es in diesem Zusammenhang für uns keine allgemeingültigen Antworten. Antworten auf diese Fragen haben mit unserem Leben zu tun.
Das ist eben auch das, was die Berücksichtigung des Geistes Gottes ausmacht: Es geht um Lebendigkeit, nicht um Stagnation. Wahrheit ist Wahrheit, die jeweils im Lebensvollzug als eine solche wahrgenommen wird. Das heißt aber eben auch: Nicht von allen gleichermaßen wahrgenommen werden muss. Darum wird diskutiert.
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Haben Christen ewige Wahrheiten? Ja. Die Bibel ist das Wort Gottes – das ist eine dieser Wahrheiten. Doch was bedeutet das? Wie sprechen wir das aus, dass der gesamte Mensch davon erfasst wird, dass das nicht nur eine leere Formel bleibt? Eine, die vielleicht das logische Hirn befriedigt, aber im Grunde für den ganzen Menschen nichtssagend sind? Bzw. umgekehrt: die Emotion befriedigen, aber das Hirn nicht. Sich darum zu bemühen, das ist Auftrag an jede Generation. Sie muss herausfinden, wie sie mit der Bibel umgeht – und mit der Bibel muss sie umgehen. Das Gespräch mit der Bibel ist Voraussetzung vor allem auch protestantischer Identität. Wer nicht das intensive Gespräch mit der Bibel sucht, muss sich fragen, auf welcher Basis er seinen Glauben stellt. Was ist das nicht aufgebbare Zentrum? Wie ist es möglich, nachvollziehbar die „Geister zu unterscheiden“? Bei diesem Ringen muss es aus meiner Sicht darum gehen: Regeln der Interpretation beachten samt: sich dem Geist Gottes öffnen, Gebet, Meditation, Kommunikation.
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Es gibt keine Gehirnwäsche – auch nicht durch den Heiligen Geist, den Geist Gottes. Er lässt Freiheit. Es gibt Zeiten, in denen die Bibelinterpretation aufgrund der Kultur einheitlicher ist – und es gibt Zeiten, in denen um die richtige Interpretation intensiver gerungen wird. Es gibt Zeiten, in denen Machtgruppen meinen, sie hätten die für alle Menschen und Zeiten maßgebliche Interpretation – und Zeiten, die meinen, man benötige die Bibel nur in Auszügen, oder nur das NT nicht das AT, oder man benötige sie überhaupt nicht. Aber nicht umsonst ringen Christen seit ihren Anfängen darum, den Weg Gottes zu finden. In Zeiten, in denen die Kirche verantwortlich war für die Gesellschaft, für das Zusammenleben, damit es möglichst geordnet war, musste sie die Bibel gesetzlich auslegen, stringent, nach einem bestimmten Muster. Sie war ja Gesetz. Aus der heutigen Sicht ist das enge Zusammengehen von Staat und Kirche bis hin zum Staatskirchentum in manchen ihrer Vollzüge eines der dunklen Kapitel. Die enge Bindung an alttestamentliche Vorstellungen, das Zusammenleben zu regeln, hat auch der Kirche selbst die Freiheit genommen.
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Eine einheitliche Bibelinterpretation muss angestrebt werden – und auch wenn das aus der jeweiligen Perspektive nur annähernd gelingen sollte – sie ist kein Gottesbeweis, auch wenn manche das als ein solches verstehen wollen. Sie hilft vielleicht anderen, sich Gott zu öffnen (vgl. Johannes 17).
Wesentlich ist für mich: Die biblischen Texte sind vielfältig. Sie treffen in ihrer Vielfalt unterschiedliche Menschen. Die von der Bibel ergriffenen vielfältigen Menschensprechen wieder jeweils Menschen an, die entsprechend reagieren. Ich spreche als Ich Menschen an – manche akzeptieren es, manche nicht – dafür sprechen wieder andere Menschen an, die sie jeweils akzeptieren oder nicht. Und das gilt auch für biblische Texte.
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Trotz all dieser Individualisierungen des Lesens biblischer Texte und der individuellen Weitergabe des Glaubens gibt es einen roten Faden. Der rote Faden, der manchmal gar nicht mehr so richtig wahrnehmbar ist, ist der Glaube an Gott, der im Volk Israel und durch Jesus Christus gehandelt hat und durch Gottes Geist am Individuum und an der Gemeinde handelt. Und darum benötigen wir eben die Öffnung (Gebet, Meditation…).
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