Bislang hatten wir in der Bergpredigt, dass Jesus Menschen, die erniedrigt wurden, sich nicht klein machen dürfen. Gott erhebt sie. Dann sahen wir, dass Jesus eine neue Verhaltensweise forderte, die die Gemeinschaft stärkt, indem man andere nicht beschimpft, nicht erniedrigt, dass man zuverlässig ist, die Gewaltspirale unterbricht, nicht heuchelt, Gott vertraut in seinem Alltagsleben.
Dann liegt es nahe, wenn man das alles liest, dass man denkt: Oh, XY hält sich nicht daran!
Wohl darum fügt Matthäus diesen Ausführungen folgende Texte an:
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet…
Der Mensch, der den anderen richtet, der wird gerichtet werden – und zwar von Gott. Er spricht sich selbst im Grunde das Urteil. Wenn er freundlich ist, gerecht, dann wird er entsprechend gerichtet werden.
Und der Forderung, die eine Gruppe anspricht, folgt wieder eine massive Übertreibung, die wir bei Jesus schon häufiger beobachtet haben, die ein Individuum anspricht:
Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders,
aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?
Wie kannst du zu dem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen –
Und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.
Wir müssen also die Drastik in vielen Worten Jesu beachten, damit man sie nicht wörtlich nimmt. Es sind rhetorisch bedingte Übertreibungen, damit man sich das alles besser merken kann. Und man kann ja mit sich selbst den Versuch machen: Welche Worte Jesu merkt man sich? Beschimpfen -> Hölle, Hand abhacken, Auge rausreißen, Wange zum Schlag hinhalten, Balken im eigenen Auge haben, Kind einen Stein bzw. eine Schlange zur Nahrung geben… – alles ist schmerzhaft, man assoziiert äußerst Negatives – man sieht daran: die „Werbung“ funktioniert. Nach dem Muster geht eben auch die Werbung vor: Der Mensch soll nach dem A.I.D.A.-Prinzip in diesen Texten nicht zum Kaufen angeregt werden, sondern zum sozialen Handeln: Aufmerksamkeit hervorrufen (A), Interesse wecken (I), Wunsch, sich zu ändern (D-Desire), dann Umsetzung (A – Action).
Zum Text: Man soll also nicht sagen, mein Bruder verhält sich nicht, wie er es soll, sondern soll fragen: Verhalte ich mich so? Und bis ich dann den Balken aus meinem Auge gezogen habe – wird es eine ganze Weile dauern.
Den Text 7,6 habe ich schon angesprochen. Es geht um das Heilige, das man nicht den Hunden geben und die Perlen, die man nicht vor die Säue werfen soll, damit sie es nicht zertreten. Wieder AIDA – aber leider wissen wir nicht mehr, in welchem Kontext Jesus das gesprochen hat, was er meinte. Aus matthäischer Sicht könnte gemeint sein, dass man in der Situation der Verfolgung nicht die Botschaft Jesu preisgibt.
Es folgt das Thema Gebet (7,7-11). Es beginnt mit dem Bettlerspruch:
Bittet, so wird euch gegeben,
sucht, so werdet ihr finden,
klopft an, so wird euch geöffnet.
Dem folgt die Zusage.
Dieser Zusage schließt sich ein Bildwort an – das auch wieder drastisch ist: Selbst Menschen, die böse sind, geben ihren Kindern keinen Stein, wenn sie um Brot bitten, oder eine Schlange, wenn sie um Fisch bitten. Entsprechend folgt auch diesem Bildwort eine Zusage: Gott wird Gutes geben, wenn man ihn bittet. Im matthäischen Kontext bedeutet das: Wenn ich Gott bitte, die Verhaltensanweisungen ausführen zu können, nach seinem Willen leben zu können, dann ermöglicht er es mir. Diese Argumentation finden wir auch Lukas 11,1-28: Es werden Texte hintereinander geschaltet, die insgesamt gesehen einen Argumentationszusammenhang bilden. Das ist eben die große Leistung der Evangelisten, das zu bewerkstelligen. Dadurch wird zwar den einzelnen Texten die eigentliche Intention genommen, aber sie dürfte noch darin erkennbar sein: A) an den Worten, die sie verwenden, dann eben auch B) an dem Kontext, in dem sie eingefügt wurden. Was aber jeweils zu untersuchen ist.
Zurück zum Text: Es geht in dem Bettlerspruch um Nahrung. Damit wird auch der Text 6,25ff. aufgegriffen: Man soll sich nicht um diese elementaren Dinge sorgen – auf seinem Weg, die Gottesherrschaft zu verkündigen.
Die Texte sind also multidimensional eingesetzt worden:
- sie haben Bedeutung in der Gesamtkomposition – hier am Beispiel Bergpredigt
- sie haben Bedeutung in einem Teil der Komposition – hier am Beispiel der Bergpredigt
- sie haben in sich Bedeutung durch die Zusammenstellung unterschiedlicher Aussagen
- sie haben in ihren kleinsten Einheiten Bedeutung – und diese sind dann zum Teil mit Jesus in Verbindung zu bringen.
- Wenn man dann die kleinste Einheit, wenn sie von Jesus ist, von Jesus her interpretiert hat, dann kann man wieder zurückgehen und jeweils die vorangehenden Dimensionen befragen:
- Entsprecht Ihr noch der Intention Jesu?
Was Jesus betrifft: Es wird ein großes Vertrauen auf Gott deutlich. Und: Das Vertrauen, dass Gott Gutes gibt. Und an dieser Stelle kann man nun viel nachdenken – weil sich automatisch die Theodizee-Frage einstellt: Gott gibt Gutes? Warum erhört er „meine“ Gebete nicht? Dieses Thema ist aber keines das Matthäus in der Bergpredigt behandeln will. Ihm geht es hier um unsere Verhaltensweisen. Von daher verlassen wir erst einmal diese spannende Frage nach der Gebetserhörung und kehren uns wieder der Bergpredigt zu. (Ich vermute nicht, dass es darum geht, Gott zu finden. Diese Frage war in der Zeit Jesu keine Frage. Gottes Existenz war den Menschen so sicher wie alles, was wir in der Schöpfung wahrnehmen.
Es folgt die Goldene Regel.
Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen.
Das ist das Gesetz und die Propheten.
Jesus fasst die alttestamentlichen Weisungen in dieser Goldenen Regel zusammen. Sie ist typisch Jesus: Man soll in Vorleistung gehen. Man soll also den anderen Gutes tun (Masochisten sind hier wahrscheinlich nicht im Blick: Anderen Schlechtes tun, damit sie mir Schlechtes tun, weil ich gerne leiden will) – aber man ist sich nicht sicher, dass sie einem auch etwas Gutes tun.
Wir kennen die negative Form der Goldenen Regel:
Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.
Diese negative Form hat einen ganz anderen Duktus: Man unterlässt etwas, man unterlässt es, anderen zu schaden.
Die positive Form der Goldenen Regel wird von manchen als eine Form des Egoismus interpretiert: Ich will was Gutes – darum tue ich dem anderen etwas Gutes: Ich gebe dem Nachbarn ein Stück Kuchen, damit er mir von seinem Kuchen abgibt. Diese egoistische Interpretation ist zumindest für Jesus nicht zu belegen (oder übersehe ich etwas?).
Es wurde im Kontext des VaterUnsers gesagt, dass die jeweiligen Bitten in der Bergpredigt durch Matthäus ausgelegt werden. Hier ist es so, dass der Text auf die Vergebung in 7,14-15 eingeht. Das hieße: ich soll vergeben – also in Vorleistung gehen, damit mir der Mitmensch auch vergibt.
Heutzutage wird die positive Form der Goldenen Regel von Jesus abgekoppelt und wird als eine allgemein menschliche Erkenntnis dargestellt. Schön. Aber können wir sie ohne den Urheber überhaupt richtig verstehen? Warum ist es Menschen möglich, in Vorleistung zu gehen? Weil sie so toll sind? Im Hintergrund steht auch das Ertragen von Leiden. Nachfolgerinnen und Nachfolger müssen leiden ertragen können – und dazu gehören auch Enttäuschungen. Aber das wurde im Kontext der 5. und 6. Antithese vertieft.
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