Die Meditation des Papstes in Yad Vashem: http://kath.net/news/46129
Eine sehr nachdenkliche Meditation: Adam, wo bist du?
Ich selbst bin zeitlich leider nicht in der Lage gewesen, die Impulse, die der Papst auf seiner Reise gegeben hat, richtig wahrzunehmen. Vielleicht werde ich es bald nachholen können.
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Der Papst bat Gott um die Gnade, „uns zu schämen für das, was Menschen zu tun fähig sind“. Er meint damit den Holocaust. http://www.dw.de/papst-trifft-muslimische-spitzen-in-jerusalem/a-17662482 Ich finde diese Formulierung sehr interessant: Sich schämen können für das, was Menschen an Schlimmem tun, ist keine Selbstverständlichkeit, sich schämen können, das ist Gnade. Das Folgende ist keine Kritik, es sind einfach durch diese Worte angetippte Assoziationen.
Was aber auffällig ist: Er hat wohl die Unterscheidung zwischen Schamkultur und Schuldkultur nicht zur Kenntnis genommen. Sie ist zwar umstritten, aber dennoch hat sie etwas, das so manches erklärt. Der Nahe Osten bis hin nach China/Japan vertritt die Schamkultur: Menschen schämen sich, wenn ihr Tun von der Gesellschaft nicht gedeckt wird und entdeckt wird. Die christliche – vor allem neutestamentlich-protestantische Schuldkultur betont das Gewissen, betont die Verantwortlichkeit des Menschen und dass er selbst seine Schuld entdeckt, wenn er etwas getan hat, das Gottes Willen nicht entspricht.
Wenn also aus westlicher Perspektive vom Holocaust/Schoah gesprochen wird, dann aus der Perspektive der Schuld: Menschen sind schuldig geworden, weil sie sich an anderen gegen Gottes Willen vergangen haben. Jeder erkennt seine eigene Schuld. Wenn aus östlicher Perspektive von schlimmen Vergehen der Menschen gesprochen wird, dann tritt die Scham in den Vordergrund: Die Gesellschaft akzeptiert eine Handlung nicht, diejenigen, die sich vergangen haben, sollen sich schämen und die Konsequenzen ziehen. Das innere Gericht (Schuldkultur) – das äußere gesellschaftliche Missbilligen (Schamkultur). In der Schuldkultur tut man etwas nicht, weil man sich innerlich zur Rechenschaft zieht – in der Schamkultur tut man etwas nicht, weil man Angst hat, es könnte von den anderen entdeckt werden – oder man tut etwas, weil man davon ausgeht, dass man nicht entdeckt wird, bei der Schuldkultur würde man das nicht tun, weil der innere bzw. göttliche Richter immer anwesend ist. In der Schuldkultur ist man Knecht seines Gewissens/Gottes – in der Schamkultur ist man Knecht der Gesellschaft/Gemeinschaft. In der Schuldkultur kann man gegen das Schuldigwerden der Gesellschaft angehen – in der Schamkultur nicht, weil man die als Richterin anerkannte Gesellschaft nicht kritisiert.
Und das ist auch mit Blick auf die Schoah interessant: Die am Massenmord beteiligten Mörder verspürten keine Schuld – aber man versuchte die Menschenverachtung zu verbergen, weil man sich schämte, wenn sie entdeckt werden. So zumindest erkläre ich die Versuche, vor dem Kriegsende die KZ zu leeren. Großartig hatte man seine Schuld ideologisch übertüncht, zum Schweigen gebracht – und jetzt drohte das weltweit entdeckt zu werden und man schämte sich dieser Tat – und in der westlichen Schuldkultur: Die Schuld konnte ideologisch nicht mehr verdrängt werden.
Ich würde aus dieser Perspektive nicht sagen, dass man sich schämen sollte für das, was Menschen einander antun können, sondern dass man erkennen soll, wie schuldig Menschen werden können. Bei dieser Scham schämt man sich über das Tun anderer – bei der Schuld merkt man, dass schlimmes Tun auch in uns selbst steckt, wenn wir denn uns nicht nach Gottes liebenden Willen für alle Menschen ausrichten.
Wie eingangs gesagt: Eine strikte Trennung ist umstritten – aber ich denke, diese Erkenntnis hat was Erhellendes, das vor allem auch mit Blick auf die Auseinandersetzung des Islam und der chinesischen Regierung mit dem Christentum. Schuldkultur ist mit der Bedeutung des Individuums verbunden – Schamkultur wird sauer, wenn das Individuum seinen eigenen Kopf behält und gar sagt: Die Gesellschaft, das Kollektiv, die Ummah, die Gemeinde tut Unrecht.
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