Sophies Schwester + Theodizee

Das Buch von Christine Hikel: Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose, München 2013 müsste eigentlich einen anderen Titel tragen. Es handelt sich nämlich nur am Rande um eine Inge Scholl Biographie. Das Hauptinteresse liegt darin, die Rezeption der Weißen Rose in der Deutschen Gesellschaft auch anhand von Inge Scholl nachzuvollziehen. Und das ist sehr spannend: Wie wurde die Weiße Rose rezipiert, wer hat was warum aufgegriffen, interpretiert, eingeordnet? Ein paar interessante Schlaglichter aus dem ausgezeichneten Buch.

  • Die Weiße Rose ist Teil politischen Widerstandes gewesen? Hatte sie etwas gegen die Nazis – oder doch grundsätzlicher: Wollte sie nicht nur die Nazis bekämpfen, sondern die ganze Gesellschaft auf ein anderes Fundament (christlich, kulturell) stellen, ein Fundament, das die Nazis zerstört hatten? Ihr Tun wurde entsprechend mit Hilfe von Märtyrergeschichten gedeutet. Der christliche Glaube bot dem zerstörten Land, desillusioniert von der Menschen verachtenden Ideologie, neuen Sinn, Verluste konnten bewältigt werden. Von daher wurde diese tragende und weiterführende Sicht der Weißen Rose betont.
  • Zukunftsweisend – Demokratie aufbauend: Die Mitglieder der Weißen Rose traten ein für Menschlichkeit, für die Demokratie, für eine Demokratie, bestimmt von Moral.
  • Weil die Mitglieder der Weißen Rose an Kunst, Literatur, Musik, an der christlichen Tradition großes Interesse hatten, halfen sie dem geschlagenen und ernüchterten Volk an die große Tradition vor der Zeit des Nationalsozialismus anzuknüpfen.
  • Sie halfen, die eigene Biographie Deutscher zu verarbeiten: Ich wusste, warum ich keinen Widerstand leistete – es war zu gefährlich, sieht man an den Mitgliedern der Weißen Rose, wie gefährlich Widerstand war. Gleichzeitig: Sie dienten als gutes Gewissen dafür: Sie sind das gute Deutschland – Deutsche waren nicht nur schlecht.
  • Das Thema Freiheit konnte gegen den Kommunismus, der Ostdeutschland mit eiserner Faust regierte, entgegengestellt werden: Die Weiße Rose ruft auf, für die Freiheit zu kämpfen. Die Freiheit, die in der Bindung an Gott ihre Grundlage hat, muss gestaltet werden.
  • Sie traten ein für die Freiheit der Lehre an den Universitäten.
  • Die Geschichtswissenschaft nahm sich des Themas an – sie weiß mehr als die emotional gebundenen Familienangehörigen, die sich bislang darum gekümmert hatten, das Handeln der Hingerichteten publik zu machen, damit es nicht vergebens war. Kritische Wissenschaft statt Zeugen, statt emotionales Miterleben und damit Wissenschaft statt voreingenommene Interpretation.
  • Traditionell wurden die Mitglieder der Weißen Rose als Menschen gesehen, die zu Opfern wurden, weil sie für etwas eintraten – und in diesem Zeitraum änderte sich das: Sie wurden einfach als Opfer des Nationalsozialismus angesehen. Und das bedeutet: Sie waren nicht die einzigen Opfer des Nationalsozialismus, entsprechend konnten sich viele Deutsche als solche Opfer sehen. Sie haben zwar nicht für etwas gekämpft, waren aber eben – warum auch immer – Opfer. Oder: Sie haben Widerstand geleistet – wie viele Deutsche von sich sagten, dass auch sie auf ihre Weise Widerstand geleistet haben, und sei er noch so unscheinbar gewesen. Das heißt: Die Mitglieder der Weißen Rose waren im Grunde wie ich.
  • Dann: Die Erinnerung an die Weiße Rose konnte keinen Gegenwartsbezug mehr herstellen – also kann man sie vergessen. Sie waren idealistisch – nicht politisch. Und so verzichtete man in den späten 60ger Jahren auf solche Helden: antiquiert, vom 19. Jahrhundert abhängig, religiös. Jetzt zählten Kommunisten, Che Guevara und co. – radikal muss der Widerstand sein, die gesamte kapitalistische Gesellschaft muss umgekrempelt werden.
  • Und dann: Muss der Widerstand radikal sein? Muss die gesamte Gesellschaft umgekrempelt werden? Nein, es geht nun um zivilen Ungehorsam. Die Weiße Rose zeigte zwar keinen zivilen Ungehorsam, zeigte aber, dass sich Bürger nicht alles gefallen lassen dürfen. Damit wird die Zeit der Demonstrationen gegen die Atombewaffnung / Nachrüstung in den Blick genommen.
  • Dann benötigte man die Weiße Rose nicht mehr, man war stolz auf das, was man geleistet hat: Die Erfolgsgeschichte nach 1945 ist wesentlich. Nicht was vor 1945 war – auch nicht der Widerstand.
  • Es wurden viele Originaldokumente herausgegeben: Briefe, Tagebücher usw. – endlich konnte man die Mitglieder der Weiße Rose in ihrer jeweiligen Persönlichkeit studieren. Sie waren keine Heiligen mehr, man holte sie von dem Podest. Sie waren nun Individuen wie du und ich.
  • Entsprechend wurde dann im Zuge der Frauenemanzipation, in den 80ern Sophie Scholl aus der Gruppe der Weißen Rose herausgehoben: Sie wurde zur Identifikationsfigur für andere junge Frauen.

Und das geht bis heute weiter. Man denke nur an die Schwulenbewegung, die Hans Scholl für sich entdeckt hat und ihn entsprechend sexuell einordnen möchte (bis hin zu Zoske, der diesen Aspekt immer wieder aufgreift und andeutet). Wenn ich die Scholls und andere der Weißen Rose als Beispiel dafür angebe, wie Menschen mit der Theodizee-Frage umgehen (alle zusammen [überarbeitet]: http://evangelische-religion.de/theodizee-sophie-scholl.html ) – wo bin ich einzuordnen? Passt das noch in diese Zeit – ist es eher ein Relikt der Nachkriegsdeutung? Ist das Ausdruck unserer Zeit? Es wird unabhängig von meiner Darlegung allerdings immer wieder darauf hingewiesen, dass die christliche Tradition der Scholls in letzter Zeit übersehen wurde (Beuys, Drews). Ich denke, dass erst in ein paar Jahrzehnten deutlich werden dürfte, ob meine Darstellung in die Zeit passte oder eben nicht.

https://www.wolfgangfenske.de/impressum-datenschutz.html und www.blumenwieserich.tumblr.com

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