Christen – kleine Leute

Nietzsche hat recht: Das Christentum hat in der Nachfolge Jesu und in der Tradition des Paulus, die Kleinen groß gemacht. Den Pöbel zur Stimme verholfen. Nietzsches Ideal war der schöne, erhabene, autarke Mensch der griechischen Skulpturen – und dem entsprach die Intention des Christentums so ganz und gar nicht. (Soweit ich Nietzsche sehe, darf man nun nicht versuchen, ihn als Christ zu vereinnahmen. Er hat wichtige Impulse gegeben. Ohne Zweifel. Tut man ihm aber nicht Unrecht, wenn man ihn auf eine bestimmte Art zu rechristianisieren versucht?: http://www.ursulahomann.de/NietzscheUndDasChristentum/komplett.html )

Christen erkennen schon sehr früh, dass sie nicht zu der Elite gehören, zu den Geistesgrößen, den Intellektuellen. Die Quelle ihres Glaubens liegt in der Beziehung zu Gott, der sich liebend und vergebend den Menschen zuwenden will.

Jesus richtete sich an die Mühseligen und Beladenen – das heißt diejenigen, die stolz sind und stark, die ihre Mühseligkeit und Beladenheit nicht erkennen, die sind auch in seinem Fokus (s.u.) – aber er kümmert sich überwiegend um die anderen. Warum auch, die Elitären fühlen sich ja stolz und stark. Diejenigen, die sich als gesund ansehen, benötigen keinen Arzt. Und so sind es nicht die Weisen und Klugen, die er in erster Linie anspricht. (Lukas 10,21ff.) Das Magnificat (Lukas 2,46ff.), das für die katholische Kirche eine so große Bedeutung hat, ist vermutlich für viele Katholiken Quelle ihres Weltbildes. Wie die gesamten Geburtsgeschichten ist sie von Erwartungen und Ansichten kleiner Leute bestimmt, von Menschen, die der Willkür der Herrschenden ausgesetzt sind. Sie setzen mit Gottes Hilfe neue Akzente – und setzen sich letztlich auch durch.

Auch Paulus weiß, dass nicht viele Große in der Gemeinde sind, sondern eben – die christliche Gemeinde war in der Frühzeit eher eine Sklavenreligion, eine Religion der Sklaven, der Leidenden und Unfreien, die aus dem Glauben heraus Kraft, Anerkennung und Freiheit empfangen haben. (Was als Hilfe diente, konnte dann unter anderen geschichtlichen Bedingungen dazu führen, Sklaverei zu verteidigen.) Bzw. sie war eine Religion der nachdenklichen Mittelschicht, die ganz schnell in die Unterschicht abrutschen konnte. Und so gründet der Glaube auch nicht auf elitäre, stolze Weisheit der Menschen – er hat seine Quelle in Gottes Kraft. Wobei freilich Paulus die Weisheit der Welt dadurch einen Stoß versetzt, dass er sagt, dass die Weisheit der Welt nie an Gott heranreicht, darum – anders als der Glaube – zu kurz springt.

Gemessen an platonischen Werken, gemessen an Aristoteles, an Cicero, an Seneca, an Werken des Sophokles – stellt sich schon die Frage: Können sich die Evangelien daran messen? Kaum. Sie sind Bekenntnisse, die Bekenntnisse kleiner Leute aufnehmen, die aber – und das darf man dann auch nicht übersehen, Literatur geprägt haben, weil sie eben in der Breitenwirkung immens waren und nicht nur in intellektuellen Kreisen zirkelten. Vermutlich mehr als großartige Werke der Antike. (Natürlich darf man nicht vergessen: Sie konnten schreiben, lesen bzw. sich in der Gemeinde vorlesen lassen. Ebenso sieht man an manchem rhetorische und philosophische Ansätze.)

Und das geht bis in die Gegenwart weiter. Die stolze Elite, die sich ihres Verstandes bewusst ist – ihn über alles andere hebt – hebt sich über die kleingeistigen Christen. Das gilt auch für die Gesunden, Starken, diejenigen, die meinen, das Leben und die Welt wartet nur auf sie, sie können ihre Zukunft planen – und sie wird entsprechend gut. Diese spricht Jesus auch an, versucht sie, für die Belange kleiner Leute zu sensibilisieren, versucht, sie einzuladen, mit ihnen Freudenfeiern zu feiern, weil Gott sie angenommen hat. Es ist eine andere Welt, in der Christen eintauchen und die Quelle, aus der sie leben – und in der diejenigen leben, die sich über diese Welt emporheben und freischwimmen wollen. Immer dann, wenn die Kirche auch zur stolzen Elite gehören wollte, zu den Mächtigen, den intellektuell Angepassten, ging es schief – zum Leidwesen vieler, vor allem zum Schaden des Evangeliums.

Aber kann man das wirklich sagen? Hat nicht die Gemeinsamkeit der Kirche mit den Herrschern und den Intellektuellen erst Kirche weitergebracht? Was wäre die große Kunst ohne die Herrscher? Was wären die großartigen philosophischen Gedankenkonstrukte ohne die Mitwirkung der jeweiligen Herrscher? Wie sehr haben auch Herrscher der Kirche geholfen, den richtigen Weg durchzusetzen? Aber wie viel Leiden hat die Anpassung mit sich gebracht, über Sklaven… – um nur dieses Thema zu nennen. Kirche zwischen Anpassung und Wiederstand. Muss man das so sehen, dass Gott auch aus dem Versagen der Kirche Gutes machen kann? Was Versagen nicht rechtfertigen soll. Was aber die Generationen, die mit dem Finger auf die Vorfahren zeigen, einmal vorsichtig machen muss, zum anderen aber auch Freiheit schenkt in Anpassung und Widerstand? Das Problem von uns Menschen besteht darin, dass wir in unserer jeweiligen Zeit eingebunden sind und wir mit den Scheuklappen der Zeit herumlaufen. Aber dabei hätten wir mit der Botschaft Jesu ein Scheuklappen-Runterreißer. Nur wenige, von denen wir noch wissen, waren in der Lage, das in der Nachfolge Jesu zu artikulieren und dann auch noch zu forcieren. Aber bevor wir wieder anfangen, mit den Fingern auf die Vorfahren zu zeigen: Wo leben wir mit zeitgebundenen Scheuklappen – und leben gegen die frohe Botschaft?

Christen wissen, dass sie auch in dem, was Liebe bedeutet, dem Anspruch hinterherlaufen. Und das zeigt auch die gesamte Kirchengeschichte, dass von der christlichen Gemeinde äußerst wichtige Impulse weltweit ausgegangen sind und auch noch ausgehen werden. Aber gleichzeitig kann das nicht hochmütig machen, weil wir eine Menge an Liebe schuldig geblieben sind, weil wir vieles aufgrund unserer Scheuklappen gar nicht wahrgenommen haben und wahrnehmen. Und so ist Vieles, was in Heimen aus der jeweiligen Zeit heraus gut gemeint und richtig gewesen ist, aus der Sicht der nachkommenden Generationen nicht richtig gewesen. Und auch aus der Sicht Jesu sicher kaum begründbar ist. Pädagogische Mittel haben sich geändert – und man fühlt sich so erhaben – doch dann sieht man auch die Mängel der eigenen Zeit. Aber: man ist verhaftet an den Mängeln der eigenen Zeit, wie alle Generationen vor uns. Manche sind so groß, neue Akzente setzen zu können – manche haben es auch geschafft, den „Zeitgeist“ zu erwischen und nachhaltiger Akzente setzen zu können. Aber im Wesentlichen gilt wohl: Es hallt das Wort – ich glaube es war Justin, der das gesagt hat – nach: Wir Christen haben das großartige Feindesliebegebot. Aber was nutzt es, wenn wir es nicht tun?

Müssen wir vollkommen umdenken lernen? Tapfer und bescheiden in der Nachfolge Jesu Christi leben?

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